Der Kilchherr von Saas

von Adolf Fux

 

An einem föhnblauen Augustabend des Jahres 1847 rasteten in der Mattmarkalp drei Zürcher Bergwanderer mit ihrem Führer Madutz aus Glarus. Tagsüber waren sie auf dem alten, teilweise mit Steinplatten ausgelegten Handelsweg gegen den Monte Moro hinaufgestiegen. Zaghaften Herzens hatten sie in die furchtbare Ostwand des Monte Rosa hineingespäht, aber auch sehnsüchtig nach Italien hinuntergesehen, allerdings ohne den Mailänder Dom zu erblicken, wie es ihnen in Saas verheissen worden war. Seltsam berührt waren sie von der Grösse und Düsternis der Landschaft, standen etwas verlegen und verloren zwischen Gipfeln und Abgründen, wohl gar in der Weltmitte, wo Schöpferkräfte deutlicher sichtbar und menschliche Sehnsüchte stärker werden. Dann hatten sie sich in stummem Einverständnis den Lockungen entzogen und waren wie innerlich erregte Kundschafter auf dem alten, wie eine historische Spur in die Landschaft gestrichelten Pfad ins Saastal zurückgekehrt.

   Einer Vereinbarung gemäss stiess in der Mattmarkalp der Kilchherr von Saas mit seinem jungen Knecht Franz zu ihnen, um sie am folgenden Tag über den noch wenig bekannten Allalinpass zu führen. Der Kilchherr war ein kühner Jäger und Bergsteiger und Freund der Wissenschaften, gemütvoll und dienstfertig, aber auch derb und eigenwillig wie ein Naturbursche. Da das Bersteigen seine grosse Liebe und Leidenschaft war, hatte er sich als Führer anerboten.

   Der Abendfriede lag über der Mattmarkalp. In der weiten Runde rauschten die Gletscherwasser, untermalten sachte das Tongeriesel der Kuhglocken. Während Franz, der Knecht, zu den weidenden Kühen ging, besprach der Kilchherr mit den Fremden die morgige Tour. Sie liessen sich in ihren Abmachungen nicht durch die Tagsatzungsbeschlüsse beeinträchtigen, wollten nicht glauben, dass man ernsthaft zum Sonderbundskrieg rüstete. Der Streit der Parteien reichte nicht in diese hehre Gotteswelt hinauf, blieb an die Niederungen und deren Politiker gebunden. Gott sei Dank! Selbst der Kirchherr erkannte in den Bergen die bessern Beschützer der Heimat als in den aus päpstlichen, neapolitanischen und sardinischen Diensten zurückgerufenen Walliser Offizieren, mehrheitlich Aristokratensöhnen und geborenen Söldnerführern, die von Haus aus kriegssüchtig waren und lieber fremden Roten tranken, statt die Rebberge der Väter zu bearbeiten. Dafür fanden sich zwischen Gundis und Fänten genug untertänige und billige Arbeitskräfte. Bereits führten diese Offiziere in den grössern Talgemeinden militärische Übungen durch, veranstalteten Paraden zur eigenen Ehre und liessen dem Fussvolk Fahnen vorantragen, um es für den Sonderbund zu begeistern.

   Franz hatte sich nicht begeistern lassen. Wenn es not tat, würde er besser zielen und treffen als die hochnäsigen Offiziere. Und das Marschieren brauchte er sich nicht erst beibringen zu lassen. So lief er von Pontius zu Pilatus, um sich einen unbefristeten Urlaub zu erwirken. Und dann kehrte er flugs heim, um seinen lieben Herrn und Meister in der Soutane als Träger in die Berge zu begleiten, nach denen er so fürchterlich Heimweh hatte.

   Jetzt sass er redselig beim Senn am offenen Feuer und schilderte ihm in seiner lebhaften Art, was er draussen im grossen Tal erlebt und erfahren hatte. Das Volk wolle den Krieg nicht, versicherte er, und sehe desperat zu, wie gerüstet werde, während Not im Lande sei.

   «Und wir Saaser wollen ihn auch nicht», sagte der Senn und blickte stur ins Feuer. «Der Krieg bringt kein Brot. Die Zeiten sind sonst schwer genug. Im vorigen Sommer sind die Wildbäche über die Ufer getreten und haben vielenorts mit der Ernte auch den Boden weggeschwemmt. Ebenfalls der Mattmarksee ist wieder einmal ausgebrochen, hat im Saastal arg gehaust und nicht wenig von dem teuren Boden mitgerissen und hinausgetragen in die Frosch- und Fliegensümpfe der Visper.»

   «Und in der ganzen Schweiz ist der Kartoffelbresten ausgebrochen», ergänzte Franz.

   «Als Schweinefutter sollen sie gut sein», bemerkte der Senn wegwerfend. «Müssten schon schlimmere Zeiten kommen, ehe wir Saaser solches Unkraut pflanzen. Noch haben wir Brot. Freilich, der letzte Sommer war so trocken, dass das Getreide schlecht ausgegeben hat. Der Selbstdrusch reichte nicht aus. So haben 8 wir in Visperterminen um teures Geld hundert Fischel Roggen kaufen müssen.»

   «Trotzdem haben nicht alle den Hunger stillen können», warf Franz ein. «Kein Wunder, dass unser Mannenvolk mehr als bisher nach Macugnaga zieht, um dort Knechtsstellen anzutreten oder in den Goldminen zu arbeiten, wenn nicht ein Leben zu nehmen und damit vollständig der Fremde zu verfallen.» Wie zu ihrem Gedenken, schloss er die Augen und fügte nach einem Weilchen bei: «Alle kommen nicht mehr zurück – jetzt erst recht nicht.»

   «Du meinst wegen dem Krieg. Hat denn der Staat, der für Strassen und Wildbäche, Viehzucht und Bettler den lieben Herrgott und die Bauern sorgen lässt, Geld zum Kriegführen?» fragte der Senn wirsch und zauste seinen Bart.

«Schlecht soll es stehen um die Staatsfinanzen. Das Rüsten kostet mehr Geld, als der Staatssäckelmeister aufzubringen vermag. Und da man auf die Feuersteingewehre aus Sardinien und das Blei von Domodossola im Krieg so wenig verzichten kann als auf Kapseln und Pulver, Patronen und Kartätschen, wurde der Mannschaftssold um einen halben Batzen herabgesetzt. So fangen sie mit dem Sparen an, die Herren in Sitten.»

   «Was sagen denn die Soldaten dazu?»

   «Die Soldaten, die schimpfen auf den Radikalismus, der sei an allem schuld, hat man uns gesagt, habe sich bei der Geburt der neuen Eidgenossenschaft zuviel Macht und Rechthaberei zugeschanzt.»

   Ob der Sonderbund das geeignete Mittel der Abwehr und Verständigung sei, wussten die Soldaten nicht zu beurteilen, sowenig sie es ahnen konnten, dass er eher dazu angetan war, das Schweizerland aufzuspalten und derart geschwächt ausländischen Mächten in die Hände zu spielen. Und hätte ihnen jemand die wahren Hetzer genannt, sie wären im Zweifel befangen geblieben.

   Als zuversichtliche Pioniere der helvetischen Bergsteigerei sprachen der Kilchherr und seine Zürcher Freunde nicht vom Sonderbund. Sie sahen gläubig zu den Bergen empor, als wäre darin eine nationale Mystik verankert, der Menschengezänke nicht beizukommen vermochte. Befangen von der gewaltigen Ruhe, die über dem bis ins Distel reichenden See wie über den Gletschern lag und von den allseits niederrinnenden Wassern eher gesteigert als gestört wurde, schwiegen die vier Männer, schwiegen und sahen ins Abendrot. Als das Firnelicht erlosch und die blauen Schatten sich verdichteten, führte der Kilchherr die Touristen zur Alphütte, einem Geviert aus Trockenmauerwerk mit einem schweren Steinplattendach darüber. Immerhin war es ein Dach in der Wildnis, das Unterkunft bot. Der Kilchherr selbst wollte in einer andern Hütte nächtigen und verabschiedete sich. Nach einer kurzen Weile kam er zurück und wandte sich mit der Bitte an den Theologieprofessor Ulrich: «Würden Sie mir Ihre Taschenuhr leihen, damit ich mich am Morgen danach richten kann und Sie rechtzeitig wecke?»

   Bereitwillig zog der Angesprochene seine grosse Uhr aus der Tasche. Auch seine Begleiter, Pfarrer Heinrich Schoch und der Antiquar Jakob Siegfried, taten ein Gleiches. Sie liessen die Uhrendeckel aufspringen, nahmen jeder ein an der Kette hängendes Schlüsselchen zwischen Daumen und Zeigefinger und zogen das Gangwerk auf. Darauf verglichen sie den Zeigerstand, hielten die Uhren ans Ohr, nickten und blickten sich gegenseitig zustimmend an. Und während der Pfarrer und der Antiquar ihre Uhren wieder in den eigenen Taschen versenkten, übergab der Professor die seine dem Kilchherrn.

Da bemerkte der Antiquar: «Man möchte wünschen, die Nacht wäre schon vorbei.»

   Der Kilchherr stutzte und fragte nach dem Grund seiner Besorgnis.

   «Sehen Sie bloss in die Hütte hinein», sagte der Antiquar. «Ist nun das die ersehnte Romantik? Sie scheint mir etwas übertrieben. So knütteldick habe ich sie mir nicht vorgestellt. Da träumen wir in der Stadt immer von Alphütten und finden schliesslich diese mangelhafte Unterkunft in einer derart grossartigen Umgebung.»

   «Wäre sie besser», fiel der Professor ein, «könnte Mattmark ein alpines Zentrum werden für Mineralogen, Botaniker, Geologen und selbst Zoologen. Diese Täler und unerforschten Berge sind stumme Hüter seltsamer Schätze und unmessbarer Werte. Sie können einem neuen, suchenden Menschengeschlecht nicht nur Ruhe und Besinnung bringen, sondern es auch tiefer einführen in die Wunder der Schöpfung.»

   «Statt Schmuggler und Frevler könnten frohe und ehrliche Menschen Berge und Pässe beleben», fügte Pfarrer Schoch bei.

«Und Verdienst ins Tal bringen», fuhr der Antiquar weiter. «Es wäre den Einheimischen damit besser geholfen als mit der gegenwärtigen Politik des Misstrauens und der Spaltung.»

  «Der Sonderbund wird den Bergen so wenig anhaben können wie den Herzen», begütigte Professor Ulrich. «Ist der Hader einmal vorbei, werden die Schweizer um so bessere Eidgenossen sein, die einander kennenlernen und auch helfen wollen. Die Bergbauernnot ist zwar nicht lokal begrenzt, aber in diesen Tälern geht sie wohl tiefer als andernorts. Einzig der Fremdenverkehr kann die Verdienstmöglichkeiten bringen, die das Volk hier so bitter entbehrt. Freilich müssen die Saaser auch etwas dazu beitragen. Die Schönheit ihres Tales und ihrer Berge allein macht auch die Fremden nicht satt. Und wenn sie auch tagsüber gerne auf Steinen und Baumstämmen herumsitzen oder an Wald- und Wiesenrändern lagern, solange die Sonne scheint, für die Nacht ziehen sie ein weiches Kissen einem harten Brett und eine saubere Matratze geschrotetem Stroh vor. Denkt daran, lieber Freund Imseng und Kilchherr von Saas.»

   Darauf schüttelten sich die Männer noch einmal die Hände und suchten das primitive Lager auf, das doch nicht so schlecht sein musste, da der Führer Madutz in seinem Winkel schon selig schlief. Der Kilchherr sann dem Gespräch nach, als er allein in der abgesonderten Hütte lag, während Franz sich noch am Herdfeuer zu schaffen machte. Seit einem Jahrzehnt war der in Fee geborene Johann Joseph Imseng schon Kilchherr von Saas. Ehedem hatte er vier Jahre lag die Pfarrei Randaim Nikolaital betreut. Dort erahnte er bereits das goldene Zeitalter des Alpinismus, zogen doch jedes Jahr mehr der begeisterten Fremden an seiner Nase vorbei nach Zermatt. Warum sollten sie nicht auch ins Saastal kommen, wo die Berge ebenso überzuckert aussahen und die Vispa nicht minder tüchtig Schaum schlug als in den Kipfen? Als Imseng als tatenfroher Dreissiger vom Landesbischof nach Saas versetzt wurde, war er fest entschlossen, sich der Reisenden anzunehmen, wie die Zermatter Geistlichen es ebenfalls mit Erfolg taten, sowohl Pfarrer Ruden als auch Kaplan Seiler. Zwei Jahre vor seiner Bestallung in Grund war eine neue Kirche erbaut worden; also war er solcher Sorgen enthoben und konnte sich andern Aufgaben widmen, die dem Seelenheil seiner Pfarrkinder nicht abträglich sein sollten. Weil in diesen Tälern des Entbehrens und Darbens ausser in Pfarrhäusern, die stattlicher und wohnlicher sind als die andern, kaum eine anständige Unterkunftsmöglichkeit zu finden war, es sei denn für demütige, bettelarme Pilger oder verlauste Schmuggler, klopften die Reisenden notgedrungen beim Pfarrer an. Imseng wollte nicht ein griesgrämiger Herbergsvater werden und bessere Gastfreundschaft üben als sein Vorgänger und dessen borstige Magd, die sich vor jedem Fremden bekreuzigt hatte, um ihn wie das Böse wegzuwünschen. Er war darauf bedacht, die Städter zu gewinnen und in die Bergwelt einzuführen, erfüllte ihn die Gipfelsehnsucht doch selber, und er war nicht gefeit gegen den Brodem der Erde. Als kühner Gemsjäger hatte er im weiten Gebirge Weg und Steg kennengelernt. Und als gebildeter Mann hatte er, obwohler Brillenträger war, ein heiteres Auge für die Wunder der Schöpfung, aber auch einen wachen Sinn für die Poesie der Städter, diese Pflastertreter und verkappten Romantiker, die geradezu auflebten, wenn sie wieder Gras oder blosse Erde unter den Sohlen fühlten, die sich kaum mehr von einem rinnenden Bergwasser zu trennen vermochten, wenn sie einmal daran sassen und die Etikette vergassen, als wäre so ein simples Wässerchen eine Heilquelle der Seele. Wie viele Seelen bedurften der Heilung durch die Natur in der Stille und Grösse der Berge!

   Solche Gedanken raubten dem Kilchherrn in jener Nacht den Schlaf. Bald nach Mitternacht stand er auf und sah beim Schein eines Schwefelhölzchens nach der Taschenuhr. Er nahm sie in die rechte Hand und strich mit der andern liebevoll darüber, fühlte ihr starkes Ticken wie einen Herzschlag und starrte ins Dunkel. Endlich erhob er sich vom Strohsack, zog die Soutane an, betete lange unter freiem Himmel und ging dann zur Hütte, in der die andern schliefen. Nachdem er sich noch einmal über die Zeit vergewissert hatte, weckte er die Bergkameraden. Mühselig erhoben sich die Zürcher vom harten Lager, traten vor die geduckte Hütte, um sich zu recken und zu strecken, als hätten sie die ganze Nacht auf einer Stange gesessen. Als der Kilchherr dem Professor die Taschenuhr zurückgeben wollte, lehnte dieser ab und sagte, er möge sie als Andenken behalten. Nach langem Zögern und immer noch ungläubig steckte Imseng die Uhr in die Tasche. Der Senn hatte auf der Träche ein Feuer angezündet und Milch gekocht, die nach Russ schmeckte.Die Männer tranken sie dennoch gern und assen dazu aus ihren Tornistern etwas von ihren Vorräten. Madutz rüstete zum Aufbruch, nur Franz fehlte noch. Der junge Knecht hatte einen gesegneten Schlaf. Als der Kilchherr ihn endlich in einem Schopf ausfindig gemacht hatte, schimpfte der Knecht über die Ruhestörung, aber auch über die unsinnige Bergsteigerei. Plötzlich jedoch war er hellwach und jodelte laut heraus, was die andern ermunterte. Während er hastig Speck und Schwarzbrot ass, erzählte er, ihm hätte geträumt, sie wären alle ausgeraubt worden. Hastig griffen da die Herren nach ihren Geldbeuteln und Taschenuhren. Natürlich war alles noch vorhanden. Darum lachten sie fröhlich und erwachten vollständig aus ihrer Schlaftrunkenheit.

   Der Kilchherr zündete eine Laterne an, entfernte sich hastig und kam nach einer Weile mit zwei Jagdflinten zurück. Eine hängte er sich über den Rücken, und die andere gab er Franz. Ohne sich weiter auf ein Gespräch einzulassen und über den Zweck der Jagdflinten Auskunft zu geben, marschierte er in seiner langen Soutane an der Spitze durch Disteln und Alpenrosen und über scharfes Geröll. Ihm folgten die drei Touristen und der Führer Madutz, Franz marschierte am Schluss. Er trug ausser der Jagdflinte ein langstieliges Handbeil und einen Tornister. Lautlos gingen die Männer am Fuss des Schwarzberges entlang, stiegen dann im Zickzack am Hang empor, der Kilchherr immer mit der Laterne voraus, weil er fast jeden Tritt kannte. Als es zu tagen begann, löschte er sie aus und band sie Franz auf den Tornister. Nach einer Wendung blieb er wieder stehen und mahnte die andern mit erhobenem Finger zum Schweigen. Wie ein wachsendes Schattenbild stand der Kilchherr im Morgengrauen und hielt eifrig nach Gemsen Ausschau. Doch es zeigte sich kein Bein. Alles schien grau und tot. Endlich bemerkte Franz trübselig: «Die Gemsen werden rarer als die Spatzen.»

   «Wieso hast du gemerkt, dass die Spatzen rarer werden?» fragte der Kilchherr leise, ohne sich umzublicken.

   «Gestern noch hat’s mir der alte Tamatterhans gesagt. Als er noch jung gewesen sei, habe er in den Nestern immer fast ein Dutzend junge Spatzen finden können. Heute sollen selbst die Spatzen nur mehr drei bis vier Junge haben.»

   «Die Zeiten werden halt schlimmer», bemerkte der Antiquar spöttisch. Franz antwortete nicht, weil er damit beschäftigt war, die beiden Flinten und die Laterne in einem Felsspalt zu verbergen, da man sie nicht über den Allalinpass tragen wollte.

   Zwischen gewaltigen Felskulissen stiegen sie langsam in die starrende Eiswelt hinauf, die anfänglich unerbittlich steil war und die Männer immer wieder zwang, innezuhalten, um Atem zu schöpfen. Und dabei erlebten sie plötzlich den Sonnenaufgang wie eine Anfeuerung der Seele: Stellihorn, Allalin und Alphubel prangten in Gold und Purpur. Wie staunende Kinder, vor deren Augen die Zaubertürme der Märchenwelt emporwachsen, standen die Männer still, waren versunken in den Anblick der Grösse und Schönheit des mächtigen Gebirges, jeder mit seinen Gedanken allein,vom Ewigen, Göttlichen ergriffen, bis Franz aus voller Kehle jauchzte und jodelte, weil er nicht mehr länger an sich halten konnte. War das nicht die richtige Antwort, die allen stummen Fragern galt, dieser Ausbruch von Lebensfreudigkeit? Ungehalten drehten die andern den Kopf nach ihm, hatte er sie doch in ihrer Andacht gestört. Aber keiner konnte ihm gram sein, dem schönen, jungen Mann mit dem kecken Schnurrbärtchen und einem warmen Leuchten in den braungoldenen Augen. Über seine ebenmässigen Gesichtszüge ging ein verlegenes Lächeln. Gross stand er in der Helle des jungen Tages, von den Strahlen der Zukunft gestreift. Das empfanden die andern so lebhaft, dass sie ihn vorausgehen hiessen wie einen Führer. Darauf war er sehr stolz und wollte sich bewähren.

   Sie hatten sich in ihm nicht getäuscht. Als Stufen ins Eis gehauen werden mussten, zeigte Franz sich darin als Meister. Mit imponierender Keckheit schwang er das grosse Handbeil und arbeitete behender als Madutz, der doch schon ein erfahrener und geübter Führer war. Der junge Mann sollte indes noch härter auf die Probe gestellt werden. Übergänge erwiesen sich als trügerisch; ungeheuer tiefe Schründe klafften auf. Vorsichtig musste Franz nach verbindenden Eisbrücken und sichern Steigen suchen. Katzengleich und mit wild glühenden Augen wand er sich durch und liess es in der Eile wohl an der nötigen Vorsicht fehlen. Weithin hallend erklang plötzlich des Kilchherrn Stimme, eine Stimme, die man dem eher schmächtig erscheinenden Priester kaum zugetraut hätte. Und sie wirkte wie ein Befehl. Franz blieb stehen und wurdesich der Gefahr bewusst, in die er sich im Übereifer begeben hatte. Langsam krebste er zurück und schickte sich drein, dass der Kilchherr selber die Führung übernahm. Nun kamen sie allerdings langsamer vorwärts. Erst wenn der Kilchherr den richtigen Tritt und Steig erkundet hatte, durften die andern folgen. Sie gehorchten gern und wurden nicht kleinmütig bei diesem grossen Unternehmen, in diesen tastenden Versuchen einer neuen Zeit.

   Gegen den Scheitel hin besserten sich die Verhältnisse. Und als sie endlich die Senke zwischen Allalinhorn und Rimpfischhorn erreicht hatten, standen sie da wie in stiller Anbetung Vereinte, von Unendlichkeit und Schweigen umgeben. Wie eine Offenbarung war der Ausblick auf die Zermatter Berge: Lyskamm, Breithorn, Matterhorn, Dent Blanche und Weisshorn in einem eigentümlich blassblau-gelblichen Licht. Wer hätte da Sonderbundsgedanken hegen können? War in diesen Bergen nicht Schönheit und Halt genug für die Schweizer aller Gattungen? Grosses und Liebes dachte jeder der Bergsteiger für Volk und Heimat. Gemeinsam errichteten sie einen Steinmann, Denkmal und Wegweiser zugleich. Von seines Meisters Rückruf, der einer Zurechtweisung gleich geklungen hatte, gedemütigt, hatte Franz nicht mehr gejodelt. Aber auf einmal raffte er sich auf, setzte den letzten Stein auf das Denkmal und sagte: «Nun möchte ich auch einmal deckeln.»

   «Du sollst noch oft genug dazu kommen», bemerkte der Kilchherr. «Dies wird nicht deine letzte Bergfahrt sein.»

   «Und wenn sie mich im Krieg totschiessen?»   «Schiess du vorher, bist ja ein guter Schütze.»

   «Ja, auf Gemsen, da schiess’ ich so gut wie Ihr, Herr Pfarrer. Aber auf Menschen, auf Schweizer? Da würde die Hand wohl zittern.»  

   Immer noch benommen von der Pracht der Berge mischten sich die andern nicht in das Zwiegespräch. Nur der Professor sah teilnahmsvoll nach dem jungen Menschen, schüttelte aber den Kopf, wollte nicht an einen Krieg glauben. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Kilchherr und sein Knecht, diese lieben, treuen Bergkameraden, morgen ihre Feinde sein sollten. Um nicht weiter solchen Gedanken nachzuhängen, mahnte er zum Essen. Und so sassen sie an der Sonne und teilten miteinander Brot und Wein. Nach längerer Rast brachen sie auf und stiegen über das sanft abfallende Firnfeld des Täschgletschers und zwischen Moränenschutt, darin sie einige Granaten fanden, zur Täschalp nieder. Bevor sie sich hier trennten, wollte der Kilchherr Professor Ulrich die Uhr zurückgeben, indem er sagte: «Mit bestem Dank habt Ihr sie wieder. »

   «Warum?» fragte der Professor erstaunt. «Ich hab sie Euch doch geschenkt.»

   «Ja, aber wohl bloss im Halbschlaf. Da ist man für sein Denken und Handeln nicht verantwortlich.»

   «Aber jetzt bin ich hellwach, wenn Ihr glaubt, dass ich gestern Abend vor Müdigkeit schon halb geschlafen habe. Nehmt die Uhr getrost. Daheim habe ich eine zweite. Oder wollt Ihr sie nicht, weil ich Protestant bin?»

   «Nein, daran habe ich nicht gedacht, bei Gott nicht. Aber vielleicht reut es Euch doch einmal. Wer weiss, ob wir Freunde bleiben können, da unsere Regierungen bereits in zwei verschiedenen Lagern stehen.»  

Professor Ulrich kniff seine schmalen Lippen noch etwas fester zusammen. Dann brach ein heisser Strahl aus seinen hellen Augen. Mit beiden Händen erfasste er des Pfarrers Rechte und sagte: «Mögen sie stehen, wo sie wollen. Der die Ewigkeit in Stunden einteilte, hat es für alle getan. Nehmt die Uhr als Andenken an unsere heutige Bergfahrt. Sie geht für Katholiken gleich wie für Protestanten. Und uns beiden soll sie noch manche gemeinsame Stunde anzeigen. Im Anblick des Weisshorns, das auch an Gott gemahnt, wollen wir Freundschaft schliessen fürs Leben, Brüder in Christo sein und bleiben. Ich komme wieder in eure Berge. Kein Politiker kann sie verrammeln oder wegtragen », schloss er lachend.

   Und so trennten sie sich als Freunde. Die Zürcher wollten über Täsch nach Zermatt gelangen, der Kilchherr und sein Franz über den Allalin ins Saastal zurückkehren.

   Schweigend schritten sie dahin. Der Kilchherr schmiedete Zukunftspläne. Mit seinem Alpenstock wollte er eine Quelle erschliessen, aus der Fremde und Einheimische schöpfen sollten. Als sie endlich bei der Schipfe anlangten, wo sie am Morgen die Flinten versteckt hatten, spähte er nicht nach Gemsen aus und sagte kurz: «Lass sie liegen!»

   «Was ist? Habe ich etwas falsch gemacht?» fragte Franz verwundert.

   «Du bist halt zwanzig Jahre jünger als ich», war die Antwort. «Doch das ist kein Fehler. Du wirst schonnoch zahmer. Als Alleingänger kann man mehr wagen, weil die Verantwortung kleiner ist. Sobald man aber fremde Herren führt, darf man nicht so stürmisch tun, wie du es heute getan hast. Da erwirbst du dir keinen guten Ruf. Nur überlegene Führer kommen vorwärts. Ein solcher musst du werden. Gute Führer brauchen wir. Dann werden auch die Fremden nicht ausbleiben. Einzig der Fremdenverkehr kann uns die nötigen Verdienstmöglichkeiten bringen», rief der Kilchherr laut und eilte weiter.

   «Aber die Flinten?» fragte Franz besorgt.

   «Wir werden sie später holen; heute ist es zu spät. Zudem könnte ich nicht ruhig auf der Lauer liegen. Wir wollen uns sputen. Wir müssen etwas tun für unser Volk, unser armes Volk.»

    Ja, man sollte etwas tun können. Die Batzen sind rar in den Kästen unserer Leute, selbst bei jenen Bauern, die sich nebenbei noch als Handwerker betätigen. Beim Nagelschmieden, Spinnen und Weben schaut nicht viel heraus. Und die schweren Warenballen muss man fast umsonst über die Pässe tragen», antwortete der Knecht und fügte seufzend bei: «Kein Wunder, dass man die Saaser Würstchen auch am Freitag essen darf.»

   «Wie kannst du am Freitag Fleisch essen?» fragte der Kilchherr erzürnt.

   «Weil wir in Ermangelung des Fleisches die Därme mit Kraut und Kartoffeln vollstopfen. Wenn man den Würstchen dann die Haut abzieht, kann man sie wohl auch am Freitag essen, Herr Pfarrer», gab der Knecht ebenfalls zornig zurück.

   «Das ist wohl ein Zeichen der Armut», bestätigte der Meister. «Es fehlt uns an allem. Auch am Ballentragen ist nicht viel zu verdienen. Und doch machen sich die Träger selbst im Winter für einige Kreuzer auf den durch Lawinen gefährdeten Weg.»

    «Weil die Not sie zwingt.»

   «Ein schweres, gefährliches Leben. Allein in den letzten Jahren sind dabei drei hoffnungsvolle Jünglinge umgekommen, verlassen und ohne jeden Beistand gestorben. Das ist das Schrecklichste, was einem Menschen widerfahren kann. Der Herr sei ihren Seelen gnädig!»

   «Amen», sagte der Knecht. «Ja, ihrer drei waren es: der Alois Imseng, der Johann Peter Ruppen und der Johann Peter Anthamatten, die über den Monte Moro gegangen und nicht mehr zurückgekehrt sind.»

   «Dieses Gelaufe über den Berg hat mir nie gefallen. Es ist sehr streng und wenig einträglich. Und wenn die Leute Waren nach Italien schmuggeln, besteht noch die Gefahr, dass sie erschossen werden oder auf die Galeeren kommen.»

   «Freilich, wenn sie recht dumm tun wie der Ferrignatz. Der sitzt nun schon seit Jahren auf der Galeere, wenn er nicht bereits gestorben ist. Was kann man wissen? Botschaft hat man keine von ihm. Das ist hart für Frau und Kinder, immer wieder denken zu müssen, der Vater sei auf der Galeere angekettet oder in unchristlicher Art ins Meer versenkt worden. So sind sie, die Italiener. Fällt einer von der Ruderbank, schmeissen sie ihn ins Meer. Armer Ferrignatz. Mich hätte der Grenzwächter nicht erwischt.»

   «Sei still, sollst nicht schmuggeln. Das fehlte noch, dass der Pfarrknecht schmuggelt.»

   «Warum nicht? Wenn so ein Reislein glückt, schaut immerhin etwas heraus, mehr als wenn wir einem Seidenhändler Ballen über den Berg tragen.»

   «Nichts schaut heraus beim Schmuggeln. Höchstens bringen sie aus dem Erlös unnützes Kupfergeschirr zurück oder Eheringe und diese grossen goldenen Ohrgehänge, die das Weibervolk eitel machen, wie die Tina zer Meiggern es geworden ist, seit ihr der junge Siwiner ein solches Geschell an die Ohren gehängt hat. Wahrscheinlich nicht umsonst, die Närrin. »

   «Oho, die Tina, Kilchherr? Das ist keine Närrin. Die verdient an den Schmugglern ein schönes Geld. Aber auch Einheimische gehören zu ihren treuen Gästen. Bei der Tina zer Meiggern finden die längsten Abendsitze statt.»

   «Gegen die Abendsitze selbst habe ich nichts. Das ist in allen Weilern so, dass die Leute auf den Abend in einer Stube zusammenkommen, um zu plaudern und zu beten. Aber bei der Tina ist kein Vorbeter. Die muss ich selbst einmal ins Gebet nehmen. Die Jungfer ist nicht wie andere Saaserinnen.»

   «Ist halt in Macugnaga geboren und aufgewachsen», erklärte der Knecht, um Tina zu verteidigen. «Dort lebt man leichter als hier. Darum betet man dort auch weniger. Und jetzt hat die Tina aus ihres Grossvaters Stube eine Schenke gemacht. Wer kann ihr das verbieten? Wer?»

   «Aus ihres Grossvaters ehrlicher Stube hat sie eineSchenke gemacht», wiederholte der Kilchherr nachdrücklich. «Und dort wird getrunken und gespielt.»

   «Und etwa einmal auch getanzt», entschlüpfte es dem Knecht.

   Das liess den Kilchherrn aufhorchen. «Sogar getanzt wird dort?» fragte er barsch.

   Franz wich der Antwort aus und sagte dagegen: «Es ist schwer, was man macht. Ich bin auch nach Italien gezogen und habe dort bei einem Bauern den ganzen Sommer um ein Fischel Reis gearbeitet. Später ging ich um ebenso geringen Lohn in die Goldminen von Macugnaga. Dort war es wohl so schlimm wie auf einer Galeere. Ich ertrug die Sklaverei bei einem Taglohn von zehn Centesimi nicht lange. Nur Tinas Vater hat es ausgehalten. Er war älter und verdiente wohl doppelt soviel wie wir andern Saaser. Noch heute arbeitet er dort und muss zufrieden sein.»

   «Und du musst dich als mein Knecht zufriedengeben », sagte der Kilchherr nachdenklich. «Dabei habe ich kaum für drei Kühe Winterung, kann dir folglich keinen grossen Lohn geben.»

   «Seid ja selbst ein armer Teufel, Hochwürden.»

   «Darum spüre ich ebenfalls die Not der andern. Immerhin ist es gut, dass die Kühe den Sommer über auf der Alp sind. So brauchst du nicht zu hirten und könntest ausser der Heuernte als Führer etwas verdienen. Träger bleiben sollst du nicht. Ich will dich schon bilden. Wir könnten alle mehr verdienen. An uns ist es, dafür zu sorgen, dass mehr Fremde ins Tal kommen. Nur müssen wir ihnen eine rechte Unterkunft bieten. Mit seinem Gasthaus ‹Zur Sonne› macht uns der Präsident Zurbriggen keine Reklame. Es ist viel zu klein und ungemütlich.»

   «Immerhin besser als die Hütte in Mattmark», bemerkte der Knecht. «Die Zürcher werden kaum ein zweites Mal dort nächtigen wollen.»

   «Darum sollten wir dort ein Gasthaus bauen.»

   «Narrheiten, Kilchherr», sagte der Knecht lachend.

   «Ein Gasthaus für die Schmuggler.»

   «Es ist kein Spass, was ich gesagt habe», erwiderte dieser. «Überleg dir die Sache. Jedes Jahr werden mehr Reisende in unsere Täler kommen. Wir müssen etwas wagen. Der Fremdenverkehr kann uns retten. Wenn wir nichts unternehmen, gehen die Fremden ins andere Tal. Zermatt ist heute schon bekannt.»

   «Die haben halt das Horn.»

   «Und wir haben Mattmark mit der ganzen Gletscherwelt ringsum.»

   «Eine gefährliche Welt», überlegte Franz laut.

   «Wenn ich bloss an den Basler denke, der vor kurzem am Allalin tödlich verunglückt ist. Es wäre vielleicht doch besser,wenn wir bei unsern Kühen blieben. Man lebt dabei einfacher, gesünder, sicherer und länger.»

   «Warum plötzlich so kleinmütig, Franz?»

   «Ich muss halt an den toten Basler denken. Warum haben wir den Zürchern davon nichts gesagt? Die werden nun vom Wundarzt Lauber in Zermatt alles erfahren und sich fragen, warum der Kilchherr von Saas das Unglück verschwiegen habe.»

   Der Kilchherr antwortete nicht. Hatte er es absichtlich verschwiegen, um die Alpinisten nicht zu erschrecken und nicht zu entmutigen? Oder war er mit dem Tod derart vertraut, dass er davon so wenig sprach wie von den Bäumen, die still und wie in sich gekehrt am abendlichen Wege stehen? Hatte er gar das Unglück ob dem Mattmarkplan vergessen? Immer noch gab er keine Antwort auf Franzens Frage, fing dagegen wieder an, von der Herberge in Mattmark und von der grossen Zukunft zu sprechen. Nun aber schnitt der Knecht das Gespräch kurz ab, indem er sagte: «Lieber als alle Zukunft wäre mir jetzt ein Strohsack, nichts als ein Strohsack. Wie wollte ich da meine müden Knochen strecken und träumen!»

   Viel zu träumen gab es für die Saaser nicht, nicht einmal für das junge Volk. Ach, wenn der Kilchherr an seine eigene schwere Jugend denkt. Geboren in Saas Fee als Sohn eines Kleinbauers, war er früh schon des Lebens Härten preisgegeben. Kaum den Kinderschuhen entwachsen, musste er die Geissen hüten und Holz sammeln, damit man im Winter nicht erfriere. Wie hart und lang waren doch die Winter. Die Väter besorgten das Vieh; die Jugend döste auf dem Giltsteinofen und stemmte die Beine gegen die Wand, um den Hunger zusammenzudrücken. So hat auch er, der kleine Hansjoseli es gehalten, bis er beim Vikar den ersten freiwilligen Schulunterricht genoss, während seine Altersgenossen weiterhin auf dem Ofen hockend den Frühling erwarteten, der nur zäh und zögernd kam.

 

 

Fortsetzung siehe neues Taschenbuch

"Der Kilchherr von Saas" Seite 26 !