Die Edelweissromanze

Adolf Fux gilt in seiner Literatur als scharfsinniger Beobachter nicht nur der Natur gegenüber, sondern auch des gesell- schaftlichen Geschehens, vor allem seit seiner Jugendzeit bis in die Sechzigerjahre. Der 1901 geborene Oberwalliser Schriftsteller Adolf Fux gehört zur älteren Generation der Walliser Literaturschaffenden, hat aber mit all seinen Büchern und vielen weiteren Schriften noch heute in der modernen Welt seinen berechtigten Platz, gelesen zu werden.

Vor über fünfzig Jahren schrieb der exzellente Beobachter Adolf Fux Die Edelweissromanze, eine Erzählung aus dem Wallis. Er schildert in seiner Erzählung die Geschichte einer verwitweten Frau eines abgestürzten Bergführers. Die Witwe ist Mutter einer schulpflichtigen Tochter, welche das tragische Ereignis zusammen mit der Mutter zu tragen versucht, um so über die existenzbedrohende Situation hinweg zu kommen. Ein Ereignis also, das Fux vor vielen Jahren zu seinem Buchthema machte und dies wohl aus einem von ihm real verfolgten Unglück, einer in den Bergen ausgelösten Tragödie. Wohlwissentlich, dass sich solche Unglücke zeitlebens und ständig wiederholen könnten, widmete er sich sachlich wie menschlich in ausgewiesener kompetenter Art diesem Thema. Aus diesen Zeilen lässt sich Adolf Fux durch sein präzises Gedächtnis untermauert, mit einem überwältigenden Wissen aus der Bergwelt, erkennen. Nicht zuletzt, aber eher weniger bewusst, platziert der Schriftsteller und Bergler Adolf Fux in seiner Erzählung die eigene unverkennbare Gradlinigkeit, als auch kritische Haltung gegenüber den damals herrschenden kirchlichen Lebensformen.

 

Die Edelweissromanze als Erzählung nimmt den Anfang mit der Ankunft eines Innerschweizer Feriengastes, der als Folge eines Felsabbruchs auf das Bahngeleise mit Verspätung in seinem Ferienort eintrifft. An der Endstation angekommen, interessiert um die Station spazierend und die Bergwelt bestaunend, begegnet ihm ein halbwüchsiges Mädchen und frägt schüchtern, ob er als Gast ein Zimmer suche. Solche direkten Angebote waren damals verboten. Der Gast als Neuankömmling in diesem Touristenort ward ob diesem Angebot zuerst überrascht, schenkte aber dem spontanen Vorschlag Vertrauen und liess sich vom Mädchen nach Hause führen. Während dem Spaziergang zu ihrem Hause verriet sie auf Wunsch des Gastes ihren Vornamen, Liselott. Der Tourist seines Zeichens den Namen Bucher tragend, hörte dem erzählenden Mädchen aufmerksam zu, wollte aber von ihm wissen, wie denn ein in den Bergen wohnendes Mädchen zu diesem Namen komme. Liselott antwortete: „Wird wohl ein rechter sein. Steht doch im Führerbuch meines Vaters selig.“ Dadurch hatte Bucher ein wichtiges Detail aus dem Leben des jungen Mädchen erfahren. Während er darüber etwas nachdachte, erzählte es vom schönen Zimmer, also der Stube, welche während der Saison den Gästen angeboten werde.

 

Bucher wusste bald mehr von der Familie, wurde der Mutter und Witwe Johanna Zmutt vorgestellt. Der Feriengast, der eigentlich nur wenige Tage im Bergdorf verweilen wollte, verlängerte seinen Aufenthalt um einiges. So lernte er im Dorf etliche Einheimische kennen, so auch über eine nicht beabsichtigte Begegnung, den Bruder des verstorbenen Vaters von Liselott, Stephan Zmutt, ebenfalls Bergführer. Der Verlauf des Erholungsurlaubs brachte einige nachdenkliche Fakten zur Tragödie des abgestürzten Familienvaters und Ehemanns von Johanna Zmutt hervor, die vom Feriengast Hubert Bucher aufmerksam verfolgt wurden.

 

Über all die weiteren, vertraulichen Gespräche mit Liselott erfuhr Bucher, dass Zmutt’s Hinterbliebenen finanziell nicht zum Besten gestellt seien. Ihren Unterhalt verdienten sie nicht nur mit dem Vermieten der Stube an die Fremden, nein, Liselott geht in die Berge Edelweiss pflücken und gebraucht diese teils selber, oder bringt sie einer anderen Verwandten zum Verkauf ins Geschäft. Selbst diese waghalsige Tätigkeit in gefährlichen Gebirgszügen ist nicht erlaubt. Die Not zwingt die Familie dazu.

 

Je länger Bucher’s Aufenthalt dauerte, ist ihm das künstlerisch, begabte und aufmerksame Mädchen nicht mehr aus den Augen gewichen. Zur Förderung ihrer musischen Talente schenkte er ihr Farbstifte und Papier, was der Mutter Zmutt nicht recht bekam. Im Verlaufe der weiteren Tage erzählte ihm Liselott, sie möchte eigentlich gerne Lehrerin werden, doch dafür fehle wohl das Geld und als Halbweise hätte sie vermutlich ohnehin keine Chance diesen Beruf überhaupt lernen zu können. Selbst dieser tiefgreifende Gedanke blieb Bucher’s Kopf angeheftet.

 

Absturz beim Rettungseinsatz

 

Mit Liselotts Mutter, Johanna Zmutt, kam Hubert Bucher selten ins Gespräch. Während den regnerischen Tagen spazierte er im Dorf, ging ins Restaurant und trifft wieder auf den Bruder des verunglückten Matthäus Zmutt. Nun wollte Bucher wissen, wie den Liselotts Vater ums Leben gekommen sei. Stephan, Liselotts Onkel, erklärte dem g’wundrigen Gast den Vorfall. So war sein Bruder zur Rettung einer Berggängerin ausgerückt, nachdem sie zusammen mit ihrem deutschen Ehemann bei miserablem, regnerischem Wetter und absolut schlecht ausgerüstet, in die Berge ging. Ihr Mann kehrte völlig aufgewühlt mit erstarrten Augen, abends zur späteren Stunde ins Dorf zurück und beklagte den Absturz seiner Frau. Trotz extrem schlechten Wetterbedingungen entschloss sich Matthäus Zmutt für eine Rettungsaktion, und das alleine, auszurücken um die deutsche Touristin ins Tal zurückzubringen. Sein Mut und die Entschlossenheit endeten auch für ihn mit einem Absturz in eine Gletscher-spalte. Seither fand man ihn nie mehr. Eine Tragödie sondergleichen.

 

Witwe Johanna Zmutt und ihre Tochter Liselott waren fortan auf sich selbst gestellt. Wohl gab’s damals schon eine Führerversicherung, doch diese war für Zmutt zu teuer gewesen.

 

Traum und Realität

 

Im Zuge der Zeit kamen sich der ledige Feriengast und Unternehmer Hubert Bucher und die zartgesinnte Witwe näher. Eine charmante Frau, die nicht nur durch ihr Äusseres sympathiegewinnend erscheint, nein, ihre wohl überlegte Zurückhaltung, gepaart mit Respekt vor einer ungewissen Zukunft, wirkten anziehend. Kaum entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis zwischen diesen Beiden, stellte er Liselotts Mutter Johanna einen Heiratsantrag. Die Witwe Zmutt erschrak, nahm die weiteren Angebote eines sicheren Lebensunterhalt für Mutter und Tochter, sowie deren Ausbildungsfinanzierung in höflicher Art zur Kenntnis, doch verschwand sie darauf sofort und ohne weitren Kommentar ausser Haus.

 

Kurz darauf erschien eine sehr traurige Liselott mit verweinten Augen in der Stube und brachte dem Gast, die von ihm geschenkten Farbstifte mit Block, ungebraucht zurück. Bucher wollte mit Liselott sofort reden, doch war sie blitzartig aus der Stube. Hubert Bucher sprang nach, öffnete die Stubentüre, doch hier stand wie ein dunkler Felsen der Bruder des abgestürzten Bergführers, mit aufgewühltem Gesicht.

 

Ein weiteres Unwetter scheint hereingebrochen zu sein. Das Angebot einer Heirat mit der Witwe schien verfehlt zu sein. Johannas Schwager, Stephan Zmutt und seine Schwester Arbsenza, kamen mit dem Feriengast bald ins mit lautstarken Emotionen geschwängerte Gespräch. Der Erfolg daraus lässt sich in Arbsenzas Worten unmissverständlich erkennen: „Eine Witwe soll überhaupt nicht mehr heiraten. Mit einem Witwer mag es anders ein. Der darf meinetwegen eine zweite Frau nehmen, wenn er sich sonst nicht helfen kann und die Familie nicht zusammenzuhalten vermag.“

 

Diese klare Aussage war die Basis der Aufforderung, Hubert Bucher soll schnellstens das Dorf verlassen und Johanna, wie Liselott sofort in Ruhe lassen und ihnen das bescheidene Leben gönnen. Damit könne er weit mehr erreichen, als er denke, meinten die beiden Geschwister des verunglückten Bergführers.

 

Mit sich und der ganzen Situation uneinig fuhr der Feriengast nach rund einem Monat mit dem nächsten Zug vom Feriendorf weg. Während der Zugsfahrt dachte er intensiv über das Geschehene nach und fand noch vor der Rückkehr zu seinem Hause in der Innerschweiz, eine wundervolle Lösung für Liselott und ihre Mutter Johanna Zmutt. 

Bergtragödien einst und heute

 

Adolf Fux griff mit seiner Edelweissromanze ein Thema auf, welches, wie ich eingangs erwähnte, immer wieder vorkommen kann. Dass eine Witwe kein zweites Mal zu heiraten habe, entsprach damals einem religiösen Dogma, das in den Bergdörfern fest verwurzelt war. Adolf Fux als naturverbundener Mensch und gleichzeitig Rationalist, musste sich an solchen Dogmen gestört haben. Fux malt in seinen Texten mit treffender Wortwahl die nackte, bedrohliche Realität und führt die Konsequenzen in Erinnerung. Trotzdem und im Wissen um die Werte eines gelebten Glaubens, musste er am Heiratsangebot des Feriengastes zumindest Sympathie geschenkt haben. Immerhin wären dadurch die Lebensstrukturen der Witwenfamilie vereinfacht worden und der Druck um das wirtschaftliche Überleben geringer. Die Religion, als damals feste Stütze der Bergler, steuerte und beeinflusste die Dramen anders.

 

Diese in der Edelweissromanze geschilderte Tragödie kann ich heute mit derjenigen, der letzten zehn Jahre vergleichen, die sich mit aller Wahrscheinlichkeit in der gleichen Bergregion zuordnen lässt. Die junge Frau eines Bergführers wurde infolge eines Bergunfalls von ihrem Ehemann früh Wittfrau. Sie entschied sich bald wieder mit einem Bergführer zu verheiraten. Auch diesen zweiten Ehemann verlor sie nach kurzer Ehezeit durch ein Bergunglück. Zum dritten Mal wagte sie eine Heirat und nochmals mit einem Bergführer. Leider ist auch dieser abgestürzt. Die heute noch lebende und mittlerweile entmutigte Frau hat wiederholt eine neue Zukunft aufzubauen – mit oder ohne erneute Heirat. Das ist eine zeitgenössische, wahre Geschichte.

 

Stellt man die Erzählung von Adolf Fux dem zuletzt geschilderten neuzeitlichen und realen Drama gegenüber, so hat „Die Edelweissromanze“ nach 50 Jahren des Erscheinens nichts an Bedeutung verloren.

 

 

Antonio E. Fux-Zryd, Wichtrach

CEO Stiftung ADOLF FUX

 

 

 

 

 

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Das Buch „Die Edelweissromanze“ ist vergriffen, kann aber bei folgenden Bibliotheken ausgeliehen werden: Médiathèque Sion (vorher Kantonsbibliothek Sitten) und Nationalbibliothek Bern (früher Landesbibliothek Bern)