Schwarzbrot

von Adolf Fux

 

     Im Gegensatz zu den knappen Äckern sind unsere Gletscher immens gross. Ewiger Firn bedeckt einen Fünftel des Landes und übt mit den himmelhohen Gipfeln zusammen eine stets zunehmende Anziehungskraft auf die Menschen der Städte und Niederungen aus. Gletscher und Berge bieten auch die Grundelemente – Wasser und Gefälle – für die Erzeugung elektrischer Energie. Der Aufschwung in der Industrie und im Baugewerbe brachte auch den Kleinbauern, wie sie im Wallis weitaus in der Mehrheit sind, zusätzliche Verdienstmöglichkeiten. Sie wurden Arbeiter-Bauern. Und ihren Kindern öffnete die Hochkonjunktur alle Türen, sogar jede der Mittel- und Hochschulen. Andere absolvieren eine Lehre, werden Handwerker, kaufmännische Angestellte, Beamte oder Selbständigerwerbende. Der Hauptharst der Volksschulentlassenen beginnt bei verlockenden Stundenlöhnen mit Pickel und Schaufel beim Kraftwerk-, Strassen- und Hochbau. Mancher avanciert zum Chauffeur oder Lenker monströser Baumaschinen. Und mehrere wenden sich dem blühenden Gastgewerbe zu oder finden bei steigender Nachfrage ausserhalb der Kantonsgrenze ihr gutes Auskommen.

 

    Nur an den kleinen Äckern ist aller Wandel vorbeigegangen. Auf jenen unter ihnen, die so schmal und steil sind, dass man darin keinen Pflug wenden kann, wird die Erde immer noch von Hand mit der Spitz- oder Breithaue gelockert und gekehrt. Wenn der Bauer jedes Jahr das Korn in den gleichen Boden sät, hat das seinen guten Grund. In Lagen, wo die menschliche Wässerkunst versagt, aber auch der Dünger mangelt, gedeiht der Walliser Roggen bestens. Er ist nicht anspruchsvoll, hat sich den röschen Böden, der mageren Erde, dem regenarmen Himmelsstrich und dem kurzen Bergsommer angepasst.

 

    Ehe es Winter wird, grünt auf dem rechtzeitig bestellten Acker verheissungsvoll die Saat. Später schlummert sie gern unter einer guten Schneedecke, bis Sonne und Föhn sie wecken und auch nachts bedrängen. Bereits um die Sommerssonnwende beginnt im Wallis die Roggenreife, zuerst an den hitzigen Hängen und später in den tiefgründigeren Mulden und Tallagen. Und je reifer und gelber Stroh und Ähren werden, umso deutlicher zeichnen sich die Äckerlein ab in der Landschaft, leuchten bei Sonnenuntergang goldig verheissungsvoll auf.

 

    Dann klauben die Bauern ein Körnchen aus den Spelzen (Kornhülse*), prüfen es mit dem Fingernagel und zwischen den Zähnen auf die Reifehärte. Wer Körnerverluste vermeiden will, wetzt die Sichel vor Tagesgrauen und schneidet sein Korn im Tau. Der Walliser Landroggen ist eine alte Sorte, ertragreich zwar, aber schwach in den Spelzen sitzend. So hat die magere Erde ihn mit Hilfe der Sonne und der Menschen gezüchtet. Denn der Bauer verwendet zur Saat Körner, die am leichtesten ausfallen, wenn er die Garbe beim Eintragen in den Stadel im Tenn gegen die Kastlade schlägt, was einem Vordrusch gleichkommt. Es sind das die grössten und schwersten Körner. Was noch in den Ähren sitzen bleibt, wird im Verlauf des Winters mit dem Flegel ausgedroschen. Bis dahin ruhen die Garben im Stadel.

 

    Die alten Walliser Stadel sind einfache Blockbauten, die zum Teil so ehrwürdig aussehen, dass man sie Heidenstadel nennt, wie die Heidenreben, die Heidenwassergräben, wovon einer sogar „Bisse des Sarrasins“ genannt wird. Er mahnt daran, dass das Welschwallis um 940 von spanischen Sarazenen heimgesucht wurde, die einige Zeit den Grossen St. Bernhard und dessen Zugänge besetzt hielten. Fraglich ist, ob diese räuberischen Sarazenen sich im Wallis häuslich niedergelassen und Kulturwerke, wie es die Bewässerungsanlagen sind, geschaffen haben.

 

     Die Stadel schweigen sich darüber aus, ob ihre eigenartige Bauweise auch von den Sarazenen erfunden wurde. Stumm stehen sie auf ihren kurzen Holzbeinen. Zwischen diesen „Stützeln“ und dem Oberbau sind runde Gneisplatten eingeschoben, welche einen Durchmesser von nahezu einem Meter haben und ringsum breit auskragen. So verwehren sie Mäusen und Ratten und andern Nagern den Zugang zum Stadel, der einem Pfahlbauspeicher ähnlich sieht. Meist haben mehrere Eigentümer Anteilsrechte am gleichen Stadel. Jeder verfügt über seinen Winkel oder sein Fach, darin er die Garben lagert. In der Mitte befindet sich das gemeinsame glatte Tenn, wo gedroschen wird. Gewöhnlich bilden Stadelanteil und Acker eine ökonomische Einheit, die sich in der Familie vererbt. Wo diese Einheit zerfällt, gerät die Bodenständigkeit ins Wanken.

 

 

     Eine Handvoll griffigen Korns vom eigenen Acker bedeutet weit mehr, als was sie wiegt. Freilich, in Zeiten ohne Arglist und Krieg, wenn alle Grenzen und Meere offen sind und die Konjunktur üppig blüht, schwindet der Glaube an die ewigen Äcker. Kommen wieder Knappheit und Kümmernis, sehen alle, auch die Spottsüchtigen und Kostverächter, danach aus, ob die Roggenäcker im eigenen Land noch grünen, weil sie dann erkennen, dass auf dem gleichen Halm Brot und Freiheit wachsen.

 

     Noch klappern an den Gletscherbächen und Wassergräben alte Bauern- und Kundenmühlen. Freilich, jedes Jahr steht eine mehr davon still, weil grosse Handelsmühlen in den Städten und Niederungen ihnen die Arbeit angenommen haben und fremdes Mehl auf den neuen Strassen leicht und rasch in die Bergdörfer gelangt, wenn nicht gar das in entlegenen Brotfabriken gebackene Brot. Immerhin mahlen einige Klappermühlen noch getreulich und eigensinnig langsam das einheimische Korn. In einer hölzernen Rinne schiesst das Wasser auf das grosse Rad, dessen Welle den schweren Läuferstein in Bewegung setzt, während der Bodenstein fest aufliegt. Die meist aus Granit bestehenden Mühlsteine sind kernfeste Kerle. Wo es sich traf, konnten sie in unmittelbarer Nähe der Mühlen aus erratischen Blöcken (Findling[sblock] *) herausgehauen werden. Sind die Mühlsteine nach vielen Dienstjahren abgeschliffen, muss man sie wieder stocken und aufrauhen, was mit einem Spitz- oder Kronhammer geschieht.

 

     Im Volksmund heisst es: „Je feiner die Mühlsteine, desto schlechter die Zähne“.

 

     Echtes Walliserbrot ist gesundes Brot, mag es auch schwarzbraun aussehen, hart und sogar mit Kohlenrestchen in der Rinde behaftet sein. Gebacken wird es im Geteilen- oder Gemeindebackofen, sei es vom Hausvater oder vom Kundenbäcker. Wo der Kundenbäcker das Mehl in Empfang nimmt, vermerkt er mit Kreide auf einem Wandbrett, wessen Eigentum es ist, indem er das Hauszeichen der betreffenden Familie anbringt. Keine Familie ist ohne Hauszeichen. Weil aber dieses Zeichen nur auf einen der Erben übergehen kann, müssen die andern Nachkommen es durch ihre Initialen ergänzen oder ein neues ersinnen, sobald sie eine Hausstand gründen und eigenes Feuer haben. Man nennt diese Zeichen auch Tesselmarken oder Brand. Sie werden nicht nur geschrieben oder in Holz gekerbt, sondern dienen ebenfalls zur Markierung der Werkzeuge und bei den Schafen und Geissen als Hornbrand oder als Ohrenzeichen. Bevor Alp-, Weid- und Wässerrechte fein säuberlich in Büchern eingetragen waren, wurden diese in Holztäfelchen eingekerbt, die man Tesseln nannte. Bereits die Römer haben zum Bezug von Getreide eine sogenannte „tessera“ oder Lebensmittelkarte eingeführt. Manches schlichtschöne Familienwappen ist aus Tesseln oder Hauszeichen hervorgegangen.

 

     Obwohl man immerzu mehr davon abkommt, das Brot selber im Geteilen- oder Gemeindebackofen zu backen, gibt es noch Walliser von altem Schrot und Korn, die ihre eigenen Pfister (Bäcker/Hofbäcker/Klosterbäcker*) bleiben. Während den gleichmässig auf die Jahreszeiten verteilten Backwochen händigt der erste Backstubenbenützer dem ihm folgenden Nachbarn den Sauerteig aus, sorgt aber auch dafür, dass der Ofen nicht ganz erkaltet. Das Roggenmehl wird scheffelweise in eine hölzerne Mulde geschüttet, mit Wasser übergossen und mässig gesalzen. Sobald der Teig genügend gärt, misst der geübte Pfister davon handgewogene Zweipfundstücke ab und formt sie zum Laib. Früher besass jede währschafte Familie ein eigenes Brotmodell aus Holz, einen geschnitzten Teller, der auf den frischen Laib gedrückt wurde. So war jedes Brot gestempelt, sei es mit einem Kreuz, mit dem Hauszeichen oder einem symbolhaften Ornament.

 

     Heute liegen diese Brotformen meist als Trödel in den Rumpelkammern oder beim Altertumshändler wie anderes mehr, was keinen praktischen Wert mehr hat und nur noch der Volkskunde dient, weil die Welt vor Neuheit strotzt und auch das letzte Bergdorf von den modernen Errungenschaften profitieren möchte, wie ja auch dem weissen Brot immer mehr der Vorzug gegeben und das Schwarzbrot verachtet wird. Und so verkümmern und zerfallen nicht nur die Kornspeicher, die Bauernmühlen und die Gemeindebacköfen, sondern auch die Zähne mehr und mehr.

 

     Getrost, noch gibt es mancherorts Eigengewächs und Selbstdrusch und hausgebackenes Brot. Nachdem der Backofen mit Reisig und Spälten neu aufgeheizt ist, werden die Laibe mit einer langstieligen Holzschaufel eingeschossen und zwar so, dass der eine hübsch neben den anderen zu liegen kommt. Einen Ofen voll Brot nennt man: einen Schuss. Bei richtiger Backhitze wölben sich die Fladen gleichmässig, ohne dass sie sich jäh aufblähen oder gar springen. Ist das Brot gebacken, wird es sorgfältig im Rückenkorb in den Speicher getragen. Jeder Laib wird für sich in die Brotleiter geschoben, damit er atmen kann und nicht schimmelig werde. Ein einmaliger Brotvorrat von einem halben Hundert und mehr Laiben muss Wochen und Monate dauern und bis zur nächsten „Bachata“ genügen.

 

     Selbst nach langer Aufspeicherung ist dieses Brot immer noch duftig und geniessbar. Allerdings lassen sich die letzten Laibe ohne Brothacker kaum mehr schneiden. Gut eignet sich dafür ein krummer Säbel, den vielleicht einer der Vorfahren aus fremden Diensten gebracht hat. Die vom Schmied ausgeglühte und in einen Ring umgehämmerte Spitze wurde mit einem andern Ring gekoppelt, der als Hebepunkt an ein dickes Brett genietet ist. Mit diesem Brothacker lässt sich selbst drei Monate altes Brot in dünne Scheiben schneiden. Auch das härteste Brot stillt einen ehrlichen Hunger.

 

 

Originalabschrift ab Manuskript, Archiv STIFTUNG ADOLF FUX,

Text um zirka 1945-1950)

 

Antonio E. Fux  CEO / Juli 2014

Fotos: Nora Fux

 

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*) nachträglich durch die Stiftung eingesetzte Begriffserklärungen