von Adolf Fux

Lachendes Wallis

Land und Volk in heiterer Schau, 1959

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 „Lieben Gästen und Einheimischen

zum Ergötzen —

wie zur eigenen Erheiterung —

wurde diese blühende Einfalt,

auf den Heimatfluren gepflückt

und mit altem Sagengut des Volkes

und am Wege abgerupften Disteln vereint,

zum bunten Strauß gebunden.“

 

Inhalt

Legenden

Leichtes Geplätscher

Ewige Saaser Rechte

Historien

Possen in Stein

usw.

 

(Fortsetzung mit 34 Kurzgeschichten ist in Bearbeitung!)

 

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Legenden

 

Auf einer seiner vielen Erdenwanderungen nahm der liebe Gott Petrus mit, um ihm auch das romantische Wallis zu zeigen. Wie die Bauern den lieben Gott erkannten, begannen sie zu klagen, die Sonne versenge ihnen Gras, Rebstöcke und Kabisköpfe. Werde man halt wässern müssen, meinte der liebe Gott und fragte in seiner weltbekannten Güte, ob er es besorgen solle? Die Walliser steckten die Murrköpfe zusammen, weil sie ob der ihnen angeborenen Minderwertigkeitsgefühle gegen jedermann misstrauisch sind. Petrus ahnte Ungutes und riet leise, sie sollten den Herrn walten lassen; er meine es sicher gut mit ihnen, sei ja sozusagen ein Walliser. Nun stutzten die Bauern wie erschrockene Hasen und erklärten, wenn der Herrgott nur ein Walliser sei, werde er es kaum besser verstehen als andere, folglich wollten sie selber wässern.

 

*

 

Wenn Sankt Jodrus heute noch als Landespatron hoch und heiss verehrt wird, ist das begreiflich, hat er doch manches Wunder vollbracht und selbst den siebenschwänzig schlauen Teufel genarrt und gebannt, so dass dieser ihn auf seinem Rücken zwischen Mitternacht und erstem Hahnenschrei am Matterhorn vorbei nach Rom und wieder zurückbringen musste. Das hat Sankt Jodrus noch keiner nachgemacht, sowenig als das Kunststück mit der Traube. Liess er doch in einem Missjahr, wo die Keltern trocken blieben, zum Tröste der Gläubigen in seinem Bischofskeller eine Kufe aufstellen, in die er heimlich eine Traube hineingezaubert hat, die derart voller Saft gewesen war, dass sich die Kufe zweiteilig mit rotem und weissem Wein füllte und nicht versiegte, bis die Trinker ihre wundrige Rotznase ins Wunderfass steckten. Da vertrocknete die Traube augenblicklich. Und aus war es mit dem Wunder. Nur die Sehnsucht danach ist geblieben.

 

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Nachdem Sankt Kümmenus, die Schutzheilige von Naters, lange genug dem nicht immer sittsamen Dorfleben geduldig zugeschaut hatte, raffte sie ihren zerschlissenen Rock zusammen und wollte davonlaufen. Am Dorfausgang begegnete sie einem Mann, der ehrlich genug war, zuzugeben, dass es hin und wieder wirklich zum Davonlaufen sei, sie aber um so inständiger bat, von ihrem Vorhaben abzulassen und wieder an ihren Platz im Beinhaus zurückzukehren, damit ihr Schutz dem Dorf erhalten bleibe. Die Heilige schüttelte missmutig den Kopf und wollte flugs weiter. Der Mann hielt tapfer Schritt und flehte, sie solle den Natisern, darunter es doch auch Gerechte gebe, diesen Kummer nicht antun. Schliesslich beteuerte der Mann, gerne wollten die Natiser sich verpflichten, ihr alle sieben Jahre ein neues Kleid zu schenken. «Ein neues Kleid?» fragte Sankt Kümmenus lebhaft aufhorchend und entschloss sich zum Bleiben.

 

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In jenen bösen Zeiten, da alle waffenfähigen Mannen das Tal hinaus in den Krieg gezogen waren, wollten die Italiener die Gelegenheit benutzen, um Zermatt zu plündern und wohl noch das Matterhorn mitlaufen zu lassen. Eine Hirtin erblickte vom Roten Boden aus die über den Theodulpass kommende Räuberbande und brachte die schlimme Botschaft ins Dorf. Um das Unheil abzuwenden, weibelte der alte Sigrist die Frauen zusammen. Er hiess sie das zweite, in der Stube am Holznagel hangende Paar Pluderhosen ihrer Männer anziehen und sich mit Keulen und Knütteln bewaffnen. Und also zogen die Frauen von Zermatt dem Feinde entgegen. Als die Italiener des Haufens ansichtig wurden, erschraken sie sehr; nie noch hatten sie Krieger gesehen mit derart hohen, mutgeschwellten Brüsten. Und so schleunigst flohen sie über den Theodul zurück, dass nur noch Schuhabsätze zu sehen waren.

 

Die Frauen steckten ihre Waffen in die Erde, fielen auf die Knie nieder und dankten dem Herrgott für den Sieg. Und siehe, als sie sich nach langem Gebet erhoben, hatten ihre Keulen und Knüttel im mürben Alpboden Wurzel geschlagen, trieben aus und blühten in allen Farben. Der Ort, wo dies geschehen, heisst heute noch in den «Garten».

 

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Eines Tages, da Jahrmarkt war und er übermässig stark beschäftigt, weil an solchen Tagen sein Weizen üppig blüht, fragte der Teufel Sankt Martin, ob er ihm seine Geissen hüten möchte. Gern war der Heilige damit einverstanden, bedingte sich jedoch aus, sie bis zum letzten Laubfall hüten zu dürfen. Und so geschah es. Nach Allerseelen kam der Teufel daher und ver­langte nach seinen Geissen. Sankt Martin wies auf die Tannen, die immer noch ihr grünes Kleid trugen. Der schlaue Teufel wollte nicht der Betrogene sein und behauptete, Tannennadeln wären keine Blätter. Weil Sankt Martin der gegenteiligen Ansicht war und die Geissen behalten wollte, strengte der Teufel einen Prozess an, den zu gewinnen er sicher war, sollen doch die Advokaten mehrheitlich auf seiner Seite stehen. Doch die ganze geifernde Beredsamkeit der verdammten Advokaten vermochte die Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen, dass Tannennadeln ebenfalls Blätter sind. Den ganzen Winter durch grübelte der Teufel dem verlorenen Prozess nach. Rachsüchtig ging er im Frühling hin und liess ein Kräutlein spriessen, an dessen giftigen Samen alle Geissen verrecken sollten. Das Volk nannte das Kräutlein «Teufelspompon» und betete in seiner Angst zu Sankt Martin. Der brachte es bald fertig, dass aus dem «Teufelspompon» selbst ein Zweiglein entsprang, welches als Gegengift wirkte und die Geissen vor Schaden bewahrte. In satanischer Wut ersann der Widersacher ein anderes Kraut, den seidig behaarten Wermut. Die Geissen fielen jedoch nicht darauf herein und frassen es nicht. So war der Teufel wieder betrogen. Bald aber rochen die wundersüchtigen Menschen selbst an diesem Kraut, sammelten es eilig und brannten daraus ein Gesöff, das sie Absinth nannten und in Unmengen gurgelten. Ob dem Genuss verblödeten sie schliesslich derart, dass weder Sankt Martin noch ein eidgenössisches Verbot ihnen zu helfen vermochten. Denn sie tranken heimlich und unheimlich weiter. Und so war der Teufel endlich zufrieden und reichlich entschädigt für seine Geissen.

 

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Als die Walliser begannen, ihre Heiligen an das Landesmuseum in Zürich, das Musee d'art et d'histoire in Genf und andere Museentempel zu verkaufen, versteckte sich einer der vierzehn Nothelfer in einem Walde. Auf die Dauer durfte er jedoch kaum das beschauliche Dasein eines Waldbruders führen und untätig den Wolken zusehen, war es ihm doch bestimmt, als Helfer auf Erden zu weilen. Weil er sich indessen nicht in die Dörfer wagte, wo die Heiligenhändler suchend umgingen, begab er sich ins Berghotel und trug dem Wirt seine Dienste an. Sicher war das ein guter Einfall. In einem Hotel wird man wohl noch nie nach Heiligen gesucht haben. Ehrlich erklärte der Nothelfer, er tauge weder zum Kellermeister noch zum Küchenchef, sondern sei nur das, was er halt sei, eben ein schlichter Nothelfer. Der Wirt glaubte dem würdigen Bärtling gern und hiess ihn alle in der Umgebung herumliegenden leeren Wein- und Bierflaschen und Konservenbüchsen sammeln und in eine tiefe Schlucht werfen, wo sie niemanden mehr ärgern können. Getreulich begann der Nothelfer mit dieser Arbeit, kam aber an kein Ende. Im Gegenteil, die leeren Flaschen und Büchsen und allerlei Scherben und Schnitzel mehrten sich während der Sommersaison ob der vielen Bergsteiger zusehends bis zu den Gipfeln hinaus. Da verschwand der Nothelfer wieder im finstern Walde und ward seitdem in der Gegend nicht mehr gesehen.

 

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Scheinbar soll der liebe Gott öfters auf Erden wandeln und hin und wieder sogar erkannt werden. Wie er abermals ins Wallis kam, traf er einen Bauern, der fürchterlich arm war. Der liebe Gott erbarmte sich seiner und wollte ihm eine Gnade gewähren, stellte ihm jedoch in Aussicht, dass er seinem Nachbarn, der eher noch minder bemittelt war, das Doppelte von dem werde angedeihen lassen, was er für sich selber erbitte. Der Bauer machte grosse, begehrliche Augen, kniff sie aber gleich wieder ein und grübelte lange. Endlich sagte er entschlossen: «Herrgott, nimm mir ein Auge!»

 

 

Leichtes Geplätscher

 

Zünftig spuckten die Walliser in die Hände, zapften die Gletscherbäche an und leiteten das Wasser durch Gräben, Rinnen oder Kännel und Stollen auf ihre Wiesen, Äcker und Rebberge. Im Laufe der Zeit und bei sprunghafter Vermehrung des Volkes gruben sie im Gemeinwerk 300 Hauptwasserleitungen, die gesamthaft 2000 Kilometer lang sind, und dazu persönliche Verteil-und Zettwasserleitungen in der Länge des halben Erdumfangs. Schwieriger als das Anlegen der vielen Leitungen war mancherorts das Zuteilen des Wassers an die Rechthaber. So soll ein Wasserzuteiler oder Wasservogt einmal verzweifelt ausgerufen haben, lieber möchte er schweizerischer Bundespräsident sein als Wasserzuteiler in Törbel.

 

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Es kann vorkommen, dass zwei Wässerwasser gemeinsam am Gletscher gefasst und eine Strecke weit durch die gleiche Leitung geführt und dann mit Brettern zwischen zwei Gemeinden oder Genossenschaften geteilt werden. So verwendete man einmal an einer Wasserleitung am Riedgletscher zu diesem Zweck auch eine Bettlade, deren der Eigentümer überdrüssig geworden, weil sie voller Wanzen war. In der Folge soll der Gletscher mächtig gewachsen sein, habe sogar den Teiler überdeckt und mit Eis gepanzert. Nach sieben Jahren jedoch sei der Gletscher wieder zurückgegangen. Da kam auch die Bettlade zum Vorschein. Und siehe — die Wanzen lebten noch und vermehrten sich fröhlich, als wäre nichts geschehen.

 

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Warum ist denn der Gletscher zurückgegangen? Ja, als die Bauern sehen mussten, wie das Eis immer weiter vordrang und ihre Wasserleitung gefährdete, machten sie das scharfe Gelübde, jedes Jahr eine Prozession zu veranstalten. Und sie haben das Gelübde bis auf den heutigen Tag gehalten. Vor solcher Bravheit kriecht selbst ein Gletscher zurück, gefährdet das Menschenwerk nicht weiter und verzichtet darauf, mit der Nase im duftenden Bergheu herumzuschnuppern.    «Und wenn der Gletscher ganz zurückgeht?» fragte ein besorgter Sommerfrischler.

 

   «Dann kehren wir das Gelübde einfach um, und er wird wieder wachsen», war die grossartige Antwort.

 

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Ja, ja, die Gletscher, ach, die kommen und gehen, wie erwiesen ist. Und dabei tragen sie grosse Steine auf dem Rücken. Verleidet ihnen die Last, werfen sie diese ab und machen sich davon. Die Steine liegen dann Jahr und Tag in der Landschaft herum, unordentlich, grau und träge. Einer Touristin, die sich nach der Herkunft der vielen Steine erkundigte, sagte der andere Saaser Führer, die hätte der Gletscher hergetragen. Weil jedoch kein solcher zu sehen war, fragte die Dame verwundert danach. Und da antwortete der Saaser, der Gletscher sei zurückgegangen, um noch mehr Steine zu holen.

 

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Doch nicht alle Gletscher gehen von selbst zurück. Und das ist wieder ein anderes Kapitel. Um die Wassernot zu beheben und ihre Wiesen wässern zu können, beschlossen die Ausserberger, einen eigenen Gletscher anzulegen. Also gingen Mannen und Frauen mit Reffen und Rückenkörben versehen ins Baltschiedertal und holten vom dortigen Gletscher grosse Eisstücke, die sie in der Mulde unter dem Wiwannihorn wieder sachgemäß zusammenklebten. Und dann rieben sie die Hände und freuten sich ihres künstlichen Gletschers wegen wie Schneekönige.

 

Aber o weh, der Gletscher strömte eine derartige Kälte aus, dass im Frühjahr die jungen Schosse der am untersten Berghang liegenden Reben erfroren. Und weil die Ausserberger den Wein mehr liebten als das Wasser, gingen sie schnurstracks hin und trugen den Gletscher eiligst ins Baltschiedertal zurück. Allerdings mussten sie mehr und mehr einsehen, daß ohne Wasser auch nicht zu leben sei. So erwarben sie sich Rechte am Baltschiederbach und gruben drei zehn Kilometer lange Wasserleitungen. Und nun haben sie beides: Wasser und Wein.

 

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Jedes Frühjahr müssen die Wasserleitungen geflickt und von Steinen und Schlamm gesäubert werden. Auch die zugedeckten Stellen sind sorgfältig zu mustern. Und so sollte einmal ein junger Visperterbiner durch einen Stollen kriechen. Kaum war er in der Öffnung verschwunden, schrie er aus Leibeskräften: «Muetter, Muetter, der Tifel, der Tifel!» Die Draussenstehenden gerieten in helle Angst. Mit dem Teufel lässt sich nämlich nicht spassen. Leichenblass kam der Jüngling zum Vorschein und behauptete weinerlich, der Teufel stecke in dem Loch. Weil es heiterheller Tag war, ermannten sich die andern und gingen der Sache beherzt auf den Grund. Da fanden sie im Stollen eine verendete Gemse mit schwarzen Hörnern, wie deren wohl auch einem Teufel zur Zierde gereichen mögen.

 

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Die nach Stunden bemessenen Wasserrechte wurden früher allgemein für jeden Eigentümer in handlange, zwei Finger breite Holzbrettchen eingekerbt. Je mehr Rechte einer besass, um so mehr hatte er auf dem «Kerbholz», und um so angesehener war er. Wenn heute das Gegenteil der Fall ist, beweist das wohl, welch grundlegender Wandlung Worte und Begriffe unterworfen sind. Denn hat einer heutzutage viel auf dem Kerbholz, ist er zum mindesten ein Schelm.

 

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Die längste Wasserleitung des Wallis ist der «Bisse de Saxon». Sie misst 32 Kilometer und soll von Joseph Fama, dem damaligen Inhaber des Badhotels und Casinos von Saxon-les-Bains, als Entgelt für die ihm von der Gemeinde erteilte Bewilligung für den Betrieb einer Spielhölle erstellt worden sein. Und wenn auch das Glücksspiel im Casino von Saxon nach kurzer Zeit auf oberbehördliche Veranlassung in der Silvesternacht des Jahres 1877 beim zwölften Schlag der Kirchenglocken für immer aufhören musste und Evian, Campione und Konstanz auch die gewinnsüchtigen Schweizer zu ködern begannen, fliesst das befruchtende Wässerwasser heute noch durch den langen Bisse de Saxon.

Bisse de Saxon І Foto: zvg.

Hingegen sind andere Wasserleitungen gefährdet, seit Gletscherwasser und Sturzbäche samt Gefälle an Elektrizitätsgesellschaften verkauft worden sind, damit die Schweizer mehr Energie haben. So wurde auch die ungezähmte Kraft stäubender Wasserfälle in Stollen hineingepresst und in gezäumte PS umgewandelt. Dass übertriebene Gewinnsucht nicht ungestraft bleiben kann, sollte vorerst eine Sommerfrische erfahren, die plötzlich von den Fremden gemieden wurde, weil die Wasserfälle nur noch in veralteten Hotelprospekten existierten. Also musste wieder mindestens ein Wasserfall her. Nach gründlicher Beratung in Vereinen und Behörden wurde das im Wasserkonzessionsvertrag ausbedungene Wässerwasser nicht mehr auf die Wiesen geleitet, sondern stäubte fortan über einen Felsen. Damit hatte man einen künstlichen, nachts sogar elektrisch beleuchteten Wasserfall und war der Ruf als Ferienort gerettet. Dagegen vertrockneten die Wiesen und begann der Zerfall der Kultur, die im Wallis mit dem Graben der ersten Wässerwasserleitung ihren Anfang genommen hat. Doch was tut man nicht alles des Fremdenverkehrs wegen?

 

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Obwohl nur schmale Pfade und in den Felspartien sogar nur fussbreite Ganglatten neben dem plätschernden Wasser hinführen, kann man auch dort seine Begegnungen haben. Nicht von Gespenstern sei die Rede, die einem überall entgegentreten können. Dem Schreibenden begegnete einmal an einer grausam gefährlichen Wasserleitung ein Geissbock. Über uns beiden der blaue Himmel; unter beiden ein gähnender Abgrund. Unerklärlich, wie der blöde Geissbock auf die schmale Ganglatte gekommen ist. Aber da stand er leibhaftig mit seinen grossen Hörnern, wollte nicht weichen und rollte die Augen. Was blieb mir da übrig, als mich mit dem Spruch zu trösten, wonach der Klügere nachgeben soll, und mich vorsichtig umzudrehen und den weiten schwindligen Weg zurückzugehen, den unberechenbaren Geissbock mit den angriffslustigen Hörnern im Rücken.

 

Der gleiche Spruch hat mir seither oft geholfen und mich befreit aufatmen lassen. Freilich, wenn sich auch der Klügere so weit verirrt hat wie ein gehörnter Geissbock, kann er nichts mehr nützen.

 

 

Ewige Saaser Rechte

 

Anno domini eintausenddreihundert, als Kaiser Albert und Bischof Bonifazius regierten, am dritten Tage des Weinmonats, verkaufte Jocelmus von Blandrate, Graf von Visp, den Saasern um vierhundert Mörsiger Pfund die im Endkessel des Saastales gelegene Alp Mundmar, die heutigen immer noch gemeinsamen Alpen Eyen, Mattmark und Distel umfassend, mit allen Rechten, inbegriffen die Murmeltiere, auf ewige Zeiten. Besagter Graf Jocelmus oder Jocelin hinterliess zwei Söhne, wovon der eine Thomas hiess und Kanonikus von Sitten war. 1310 erbte er die Majorie oder Meierei von Visp, die sich sein Grossvater Gottfried als Vidumnatsrecht der bischöflichen Tafel von Sitten erholdet und erheiratet hatte. Dieser Kanonikus Thomas, der sich durch den Bau der Allerheiligenkapelle am Wege nach Valeria zu Sitten ein bleibendes und erhabenes Denkmal geschaffen hat, war den Saasern gegenüber weniger grosszügig. Nach dem Tode seines Vaters machte er ihnen die Rechte auf die Murmeltiere streitig, bis sie mit Ach und Krach zwölf Pfund nachbezahlt hatten.

 

Von da an übten die Saaser während mehr als zwei Jahrhunderten unbehelligt das Hoheitsrecht über die Murmeltiere aus, soweit nicht die zeitweilig mächtig ins Tal vorstossenden und mit gewaltigen erratischen Blöcken wie mit Kieseln spielenden Allalin- und Schwarzberggletscher sie daran hinderten, indem sie das Murmeltierrevier mit Steinbrocken übersäten oder bis ins Distel hinein unter Eis und Wasser setzten. Aber immer vermochten genug der fruchtbaren Murmeltiersippen sich aufs Trockene zu retten. Die Saaser schössen die Tiere mit Pfeil und Bogen, erlegten sie mit schlau ergrübelten Fallen und gruben sie im Winter aus gesegnetem Schlaf. Jeder Saaser wollte seine Pelzkappe auf dem Kopf und sein Murmeltierfleisch im Topfe haben. Keiner sparte das Schmalzlicht zur Beleuchtung seiner Stube und die für gichtige Glieder und andere Gebresten heilsame Salbe aus Murmeltierfett.

 

Murmeltier І Foto: zvg.

Wohl war man einigermassen um die Wiederbevölkerung besorgt, aber ob der stärkern Nachfrage bei zunehmender Bevölkerung wurde die Zahl der Murmeltiere zusehends geringer. Und als sie nicht mehr für alle Köpfe reichten, wollten sich einzelne anmassende Familien, die auch im kleinsten Dorfverband nie fehlen, der ewigen Rechte des Volkes bemächtigen und im Jahre 1538 für sich allein beanspruchen. Da erhob sich der demokratisch gesinnte ehrliche Rest der neunzig Mannen des Tales innerhalb Martis-Wald und rastete nicht, bis die allgemeinen ewigen Rechte gewahrt blieben für jeden und alle. Aber den Murmeltieren gab das keinen Auftrieb. Sie wurden seltener und darum kostbarer. Und aus diesem Grunde stritt man sich bereits 1549 wieder darum, ob die zu erlegenden Murmeltiere nach den vier Vierteln Almagell, Grund, Balen und Fee oder auf die Kopfzahl der Einwohner eines jeden Viertels verteilt werden sollten. Die Richter Summermatter und Kalbermatter entschieden nach langer und ernsthafter Beratung für die Verteilung nach Vierteln oder Gemeinden, weil sie hofften, die Murmeltiere damit besser schonen zu können. Der Spruch aber genügte dafür so wenig als mancher andere Spruch, dem die beste Absicht nicht fehlt. Schon 1573 musste eine Verordnung erlassen werden, wonach die Murmeltiere im Saastal unter unbedingten Schutz gestellt wurden, damit nicht der letzte Schwanz verschwinde. So hiess es wenigstens. Sogar das Halten von Hunden war ohne ausdrückliche Erlaubnis der Gemeinde verboten.

Vergleichsweise sei erwähnt, dass ebenfalls die Zermatter im Nachbartal in ihrer Purenzunft-Verordnung vom 4. März 1571 Bestimmungen über die Murmeltiere aufgenommen hatten, in ihrer etwas nachgiebigern Art der Rechte aber bald verlustig gegangen sind, während man jene der Saaser im 18. Jahrhundert nur zu beschränken versuchte und deshalb wenigstens das unsinnige, gottsträfliche Ausgraben schlafender Murmeltiere und das Ausnehmen ganzer wehrloser Sippen verboten hat. Doch wieder ruhten die jagdlustigen und rechthaberischen Männer nicht, bis der Landrat der jungen Republik Wallis ihre ewigen Rechte auf die Murmeltiere mit dem glänzend neuen Amtssigill bekräftigt und im Jagdgesetz von 1804 genau umschrieben hatte, dass den Saasern auch das Graben gestattet sei wie ihren Vorfahren seligen Angedenkens.

Als die Saaser, die zu allen Zeiten gerne über den Monte-Moro- und Antrona-Pass nach Italien gelaufen sind, sei es als Gründer von Walserkolonien, sei es als Söldner, Goldminenarbeiter, Ballenträger oder Schmuggler, sich 1815 nach langem Bedenken mit den übrigen Wallisern in die «Lobliche Eidgnosschaft» aufnehmen liessen, geschah das unter der ausdrücklichen Wahrung ihrer ewigen Rechte, die Murmeltiere inbegriffen. Und wie später die Bundesbehörde selbst die allgemeine Jagdaufsicht übernommen und die Kantone mit der Ausführung ihres Gesetzes betraut hatte, musste alljährlich im kantonalen Beschluss über die Ausübung der Jagd ein Ausnahmeartikel erscheinen, darin versichert wurde, dass der Beschluss die Rechte des Saastales betreffend die Murmeltiere, Rechte, die durch die Bundesbehörde als zivilrechtlicher Natur anerkannt worden sind, nicht beeinträchtige.

Einmal aber, aber auch nur ein einziges Mal, nach der Einführung des neuen Bundesgesetzes über Jagd und Vogelschutz vom Jahre 1925, glaubte man im obersten Stock des Regierungsgebäudes auf der Planta in Sitten, wo man den Pulsschlag des Volkes weniger spürt, diesen Ausnahmeartikel als veraltet fallenlassen oder unterschlagen zu dürfen. Und so wurde denn der staatsrätliche Jagdbeschluss ohne diese Sonderbestimmung im Amtsblatt veröffentlicht. Aber da ging ein urzeitlich starkes Rumoren und tiefes Murren durch das Saastal, und die Gemeindepräsidenten, welche nicht bloss 90 Saaser hinter sich wussten wie 1538, sondern 400 stimmfähige Bürger, reisten - mit einem sechshundertjährigen Pergament, das von einem echten Grafen unterschrieben und besiegelt war, einer Murmeltierverordnung von 1573, gutgeheissen und unterzeichnet von einem Fürstbischof des Landes Wallis, und einem Entscheid, bestätigt in allen Treuen von einem Präsidenten der schweizerischen Eidgenossenschaft, im kalbsledernen Rucksack - in die Kantonshauptstadt und klopften im Plantapalast so energisch mit ihren Bergführer- und Maurerfäusten auf den grünen Tisch, dass weit in der Runde der Aktenstaub aufwirbelte und seitdem alle Jahre wieder im Jagdbeschluss hochachtungsvollst auf die ewigen Saaser Rechte verwiesen wird, wenn auch selten einer mehr sein Murmeltier im Topfe hat und bald jeder sich im Notfall mit andern und fremden Salben behelfen muss.

 

 

Historien

 

Hannibals Zug über die Alpen bleibt unbestritten, mag er dafür den Grossen oder den Kleinen St. Bernhard gewählt haben. Unser Dorfschullehrer hat sich für den Grossen entschieden, basta. Übrigens waren die nach Italien führenden Wege hier wie dort sehr steil und zur Herbstzeit in den höheren Lagen bereits verschneit und vereist. Und fluchen konnten die Soldaten schon damals. Kein Wunder, dass die punischen Krieger, die noch nie Wintersport getrieben und auch keinen Hochgebirgskurs hinter sich hatten, fluchten und Zetermordio schrien und sich sogar anschickten, ihrem Feldherrn den Gehorsam zu verweigern. Da schneuzte Hannibal sich die Nase, trat an die Spitze seines Heeres, setzte sich auf seinen Schild und fuhr mit den Worten: «Habt ihr noch nie etwas vom Schlitteln gehört?» nach Italien ab. Weil jeder Sport die Massen zu begeistern vermag, setzten sich die Soldaten ebenfalls auf ihre Schilde und fuhren jauchzend zu Tal. So hat Hannibal nicht nur die Schlacht bei Cannä gewonnen, sondern darf auch für sich den Ruhm in Anspruch nehmen, mit dem von ihm organisierten Schlittenrennen den Wintersport begründet zu haben.

 

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Als Kaiser Heinrich IV. seinen schweren Gang nach Canossa antreten musste, nahm er die Kaiserin und eine Auslese von Edelfrauen mit, die er in Martinach in Ochsenhäute einwickeln und von getreuen Trossknechten über den Großen St. Bernhard bringen liess. Nach überstandener Abfahrt taute das im Gebirge eingefrorene Lächeln der Frauen in den mit Scharlachdamast ausgeschlagenen Hallen gastfreundlicher Palazzi auf. Und sogleich begann die deutsche Anmut den Widerstand von Canossa auszuhöhlen, was wohl der Grund gewesen sein mag, warum der Kaiser die reizenden Hofdamen derart aufs Eis geschickt hat im Jänner anno 1077.

 

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Um Salz und Gold ging der verfratzte Trichelstierkrieg. Der König von Frankreich verteuerte den Wallisern das Salz und kürzte ihnen den Sold. Die einheimischen grossen Hansen taten nichts dagegen und nichts dafür. Im Gegenteil: sie spickten die eigenen Beutel mit des Volkes Geld, hielten Fähnlein und Pfründen feil, liessen sich vom Franzosenkönig den Papieradel verleihen und schlampten sich voll. Das Volk aber saugte an den Hungerpfoten, bis es dessen satt war. Ob solchem und anderem Ungemach rottete es sich zusammen, gewillt, die fetten Milben aus den Käsen zu vertreiben, die geistliche und weltliche Obrigkeit abzusetzen und die Knechtschaft zu brechen.

In der zwölften der zwölf bösen Nächte, in der Dreikönigsnacht anno 1550, brach der Trichelstierkrieg los, von Leukern, Lötschern und Gestelern angezettelt, von Vispern und Brigern weitergetragen. Um die eigene Haut zu schonen, sich ein wilderes Aussehen zu geben, wie der Esel mit der Löwenhaut, schlüpften die Aufrührer in Viehhäute, hingen sich Trichlen an den Hals und banden sich Masken vors Gesicht. Derart vermummt und mit allem bewaffnet, was diese Aufrührer, die Bauern voraus, Freihärster, Reisläufer auf Urlaub und allerlei andere lederne und pelzige Gesellen im Gefolge, hatten auftreiben können, zogen sie von Dorf zu Dorf, derart tierisch anzusehen in ihrer berechtigten Wut, dass schwangerer Frauen Frucht gefährdet war, Pfründenjäger in den Schürzen ihrer Mägde zu entkommen versuchten und Franzosenfreunde sich in leergesoffene Kufen verkrochen.

Mit Macht stellte sich Landeshauptmann Kalbermatten den Bauern entgegen, liess ihnen die Masken vom Gesicht reissen und die Viehhäute über die Ohren ziehen. Also blossgedeckt fuhr den Helden der Tatterich in die Glieder. Und der Aufruhr brach zusammen. Nun mussten sie mit der eigenen Haut in die Gerbe, zettelten keinen zweiten Trichelstierkrieg mehr an und liessen alle obrigkeitliche Gewalt mit viehischer Geduld und Sturheit über sich ergehen.

Aber heute noch beginnt in den zwölf bösen Nächten und der daran anschliessenden Fastnachtszeit in den Jungen altes Rebellenblut aufzukochen. Und wo es noch richtig zum Brausen kommt, schlüpfen die Verwegensten in Felle und Häute geschlachteter Haustiere, hängen sich Viehglocken um, binden sich Masken vors Gesicht — im Lötschental sogar die historischen, trichelstierverdächtigen Holzfratzen — und ziehen als Oitschini, Füdini und Roittschäggete gassauf und -ab, schwermütig melodische Laute, wie aus fernen Vergangenheiten zurückgenommen, ausstossend, Urlaute der Freiheit.

Die machen aber keinen Landeshaupt-mann mehr aufhorchen, keine grossen Hanse schlottern, sondern lassen höchstens unmündige Kinder voller Angst und Schutzbedürfnis nach der Mutterschürze greifen und die Mädchen in einem seltsam hitzigen Augenblicksempfinden rascher die Wolle frommer Schafe von der Kunkel zupfen.

 

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Das französische Witzblatt «Le Canard enchaine» sah sich einmal zu folgenden Korrekturen der Geschichte veranlasst: «Schweizer (oder Helvetier): wilder gallischer Stamm. Volk von unverbesserlichen Kriegern, welches die friedlichste Gegend der Welt bewohnt. In den Geschichtsbüchern steht: ,Die Franzosen, unter Gaston de Foix, schlugen die Kaiserlichen bei Ravenna. Die Engländer, geführt von Marlborough, schlugen die Franzosen bei Malplaquet.’ Das sind lauter Schwindeleien. In Wirklichkeit waren es gut besoldete Schweizer aus dem Kanton Wallis, welche sich mit nicht weniger gut bezahlten Schweizern aus dem Kanton Uri oder Appenzell herumschlugen.»

Bild zvg.

 

Als Gasthof-Propaganda wird von einem Wirt am Simplon eine Zinntasse gezeigt, aus der Napoleon Bonaparte bei seiner angeblichen Reise über diesen Pass Milch getrunken habe. In Wirklichkeit hat Napoleon den Simplon nie gesehen, obwohl er die Strasse im Frondienst hat bauen lassen. Touristen und Reporter aber glauben die Geschichte von der Zinntasse, wie sie an den grüngepolsterten Fauteuil glauben im Hotel du de-jeuner de Napoleon Ier in Bourg St-Pierre am Grossen St. Bernhard, wo Napoleon demgemäss gefrühstückt haben dürfte, ehe er tatsächlich auf einem zahmen Maulesel über den Berg geritten ist. Engländer wollten diesen historischen Lehnsessel zu wiederholten Malen ergattern, weil sie eine besondere Vorliebe hatten für alles, was an den grossen Korsen erinnerte, den sie nach Sankt Helena verbannt haben, als sie sich vor ihm fürchteten wie die Mäuse vor der Katze und um ihre eigenen Sessel bangten. Aber entgegen allen bösen Behauptungen, der Schweizer Wirt habe den gleichen Stuhl mehrmals verhandelt, ist er immer noch im Original vorhanden, insofern er sich nicht gerade beim Polsterer befindet. Denn der grüne, beblumte Stoffüberzug aus der Empire-Epoche ist stark verblichen und zerschlissen wie alle alten Herrlichkeiten. Übrigens kümmern sich die Engländer, die heute im Alpencar über den Grossen St. Bernhard fahren, so wenig als die Franzosen um das Hôtel du dejeuner de Napoleon Ier in Bourg St-Pierre.

 

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Bis 1851 gab es im Wallis keine Kantonssteuern. Für das Wenige, was die Regierung bisher für das Volk getan, reichten Salz und Sold fremder Fürsten. Die neue Zeit brachte vermehrte Aufgaben und verlangte neue Mittel. Zwanghaft erliess der Große Rat 1851 ein Gesetz zur Einführung der Einkommens- und Vermögenssteuer, das im konservativen Oberwallis fast einstimmig verworfen, im liberalen Unterwallis dagegen fast einstimmig angenommen wurde. Als das Gesetz in Kraft treten sollte, zeigten sich im Oberwallis «Symptome der Ununterwürfigkeit». Man verlangte, dass der Staat an Lehrern und Offizieren spare und weigerte sich die «Abgaben-Rodel» aufzustellen. Um den Widerstand zu brechen, wurden Kommissäre ausgeschickt, denen sich schliesslich alle fügten bis an die Gemeinden Eischoll, Unterbäch und Bürchen. Obschon von den andern im Stich gelassen, wollten sie sich mit Waffengewalt der Steuern erwehren. Da beschloss der Staatsrat das Aufgebot der steuerfreundlichen Welschwalliser, um die widerspenstigen Gemeinden des Deutschwallis zu besetzen. Sieben Jäger- und Füsilier-Kompanien wurden mobilisiert und eine Abteilung Artillerie mit zwei Kanonen «pour battre en breche les rochers de Tourtig et de Wandflue». Während zwei Kompanien als Reserve und zum Schutz des noblen Staatsrates in Sitten blieben, marschierten die andern am 15. August das Rhonetal hinauf nach Turtmann, wo sie meutern wollten, weil der Spatz zäh und das Brot knapp waren. Nach einem letzten unnützen Appell an die drei Gemeinden, sich zu unterwerfen, stiegen die Soldaten nach Eischoll hinauf, wo sie statt mit Pulver und Blei mit Wein und Käse empfangen wurden, um letzten Endes gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Am folgenden Tage krochen auch die Unterbächner und Bürchner zu Kreuze, lobten das Steuergesetz an und zahlten ihren Teil der Besatzungskosten. Damit war ein Exempel statuiert und der grosse Steuerfeldzug siegreich abgeschlossen. Niemals mehr seither zeigten sich im Wallis gemeindeweise «Symptome der Ununterwürfigkeit». Steuerpflichtige, die an solchen Symptomen Gefallen finden und mehr darüber wissen möchten, sei die Lektüre der Schrift «Das Finanzgesetz von 1851 und die militärische Besetzung der Rarner Schattenberge» von Dr. Anton Gattlen empfohlen.

 

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Einweihung des Simplontunnels im Jahre 1906 in Brig. Die Schweiz will sich den hohen ausländischen Gästen von der besten Seite zeigen. Eine Schwadron Guiden führt das neue Maximgewehr vor. Viktor Emanuel, der König von Italien, bezweifelt dessen Treffsicherheit. Kommandant Favre erteilt einem Wachtmeister den Befehl, im Rafji Scheiben aufzustellen, und fügt augenzwinkernd und leise bei: «Aber es werden nur lauter Vierer gezeigt, verstanden!» Der Wachtmeister hatte verstanden und trabte davon. Nachdem alles bereitgestellt ist, schiessen die Guiden mit dem neuen Maximgewehr auf die Scheiben im Rafji. Dann treten die Zeiger in Funktion. Wirklich lauter Vierer! Wie staunte da der König von Italien über die Tellensöhne und deren Geschoss.

 

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Ein Trupp deutscher Skifahrer muss bei einer Abfahrt im Lötschental vor einigen im Wege liegenden Trämeln stoppen. Hocherfreut bemerken sie, dass auf jedem Trämel ein Hakenkreuz eingehauen ist. «Heil Hitler!» schreien sie und erinnern sich der Geopolitik von Reichswart Kurt Münch, wonach Deutschlands südlichster Grenzstein das Matterhorn sein soll, folglich auch der Lötschentaler Bauer an den Führer und das Tausendjährige Reich glaube und das heilige Zeichen in jede Rinde schneide. Der sich mit den Trämeln abmühende Bauer hörte das Geschwafel an, erklärte jedoch, er kenne keinen Hitler, wisse auch nichts von einem Hakenkreuz und einem Tausendjährigen Reich. Was er da in die Trämel eingehauen habe, sei sein eigenes Haus- und Holzzeichen, zwei verdrehten Bundhaken nachgemacht. Schon sein Urahne habe damit das Holz gezeichnet. Basta.

     Kleinlaut zogen die Hitlerjungen weiter.

 

 

Possen in Stein

 

Wer in eine der vom Walser Baumeister Ulrich Ruffiner im 16. Jahrhundert geplanten und verwirklichten Kirchen und Kapellen tritt, dem gehen die Augen auf vor Wunder, Begeistert folgen die Blicke allen Einzelheiten des rhythmischen Spiels von Flächen, Tür- und Fensterleibungen, Säulen, Bögen und Rippen, um endlich in den Schlusssteinen reicher Netzgewölbe wie in erdentrückten Sammelpunkten unbeschwerter Schönheit zur Ruhe zu kommen. Nur im Vorbau der Sankt-Annen-Kapelle in Glis schlägt der Wundernase etwas entgegen, das prickelnd über Geist und Gemüt geht. Wie ein Zerrbild der damaligen Zeit wirkt die über dem Weihwasserstein eingemeisselte Tierszene. Hat Meister Ulrich diesen Stein aus freiem Ermessen mit einem Affen und einem Fabeltier geziert? Drängte ihn die Lust neuen Bildens und Gestaltens dazu? War es Auftrag, Laune und Leichtsinn des Bauherrn selbst?

 

Bauherr der St.-Annen-Kapelle war Georg Supersaxo, der Todfeind von Kardinal Schiner, der es in jahrelangen Kämpfen zustandegebracht hat, dass die Walliser ihren rechtmässigen Landesherrn, den Kardinal, wie einen Sündenbock, für immer aus dem Lande vertrieben haben. Überdies liess Supersaxo diese Kapelle zu einer Zeit erbauen, da er höchst persönlich im Kirchenbann gewesen ist. Denn dass er einen Kardinal, mochte er auch kein Heiliger sein, mit der Mazza, dem Zeichen des Volksunwillens und der Empörung, bekämpft und besiegt hatte, konnte Rom nicht ungestraft hinnehmen.

 

Hat nun der von der Kirche mit dem Bannfluch gezeichnete Kardinalbezwinger und Kapellenerbauer, dieser fürstlich reiche und weibisch eitle Volkstribun, sich von diesem Widerspruch reizen lassen und ihn der Nachwelt in skurrilen Tierszenen überliefern wollen?

 

Aus den geschichtlichen Zusammenhängen und dem Umstande, dass dieser gleiche Supersaxo schon früher für seinen Palast in Sitten auf seine Gegner abgestimmte Teufelsfiguren als Stiegenwinkelabschlüsse in Stein hauen und setzen liess, findet eine solche Vermutung neuen Nährgrund. Er muss überhaupt ein gewitzigter Herr gewesen sein, dieser Volkstribun, kannte er doch sogar Adams Geburtsjahr genau und konnte folglich in seinem Prunksaal in Sitten auf ein Spruchband schreiben lassen, dieser Saal sei 5199 Jahre nach Adam (Achtung jüdischer Kalender – nach heutigem Kalender ist es das Jahr 1439*) vollendet worden. [*Anmerkung der Geschäftsstelle STIFTUNG ADOLF FUX: Bei der Zahl 5199 im gedruckten Buch ‚Lachendes Wallis’, Seite 33 und 47, handelt es sich um die Jahrzahl aus dem jüdischen Kalender. Nach dem heutigen, gregorianischen Kalender, sprich weltlicher Kalender, ist es das Jahr 1439. Zu Beginn dieses Kapitels bezieht sich der Autor Adolf Fux im ersten Textabschnitt, auf der 2. Zeile, auf das 16. Jahrhundert und im letzten Textabschnitt dieses Kapitels, auf der 6. Schluss-Zeile, nimmt er Bezug auf „Ein vierhundertjähriges Rätsel...“, was wiederum dieselben Jahrzahlen bestätigen dürfte. Ergänzt durch: Antonio E. Fux CEO der Stiftung 21. Februar 2017]

 

Und Ulrich Ruffiner war sein Baumeister und Steinmetz. Doch der Gedanke, er habe sich an einem heiligen Ort als Werkzeug der Lästerung gebrauchen lassen, entbehrt wohl der Vernunft. So sei versucht, aus der damaligen Weltanschauung und ihrem Tierbegriff auf dieses Ränkespiel zwischen Fabeltier und Affe über einem Weihwasserstein zu schließen.

Nie hat der Mensch das Tier derart geschmäht und entwürdigt wie im Mittelalter. In der Urzeit wurde das Tier vergöttert und sogar in die Sterne geschrieben. Heute noch deutet der moderne Mensch aus diesen alten Sternzeichen sein Horoskop, wie auch mancher Bauer beim Pflanzen noch der Gestirne und ihres Standes achtet. Nach alttestamentlichem Glauben wurde das Tier noch würdig befunden, um den bereits an seine Stelle getretenen neuen Göttern als Opfer dargebracht zu werden. Auch noch bei den Römern schloss man aus seinen Eingeweiden auf die Zukunft. Im Mittelalter aber wurde es zum Teufelsbegriff. Alles Getier schien vom Teufel besessen zu sein, vom Maikäfer, den man ergebnislos mit dem Bannstrahl bekämpfte, bis zum Schwein, das man als Übeltäter zum Strang verurteilte, wenn es fett war jedoch vom schielenden und bereits aufgeklärten Henker in den eigenen Speicher gehängt und stückweise geschmort worden ist, um mit Satan den Hunger zu vertreiben. Die Verirrung der von Selbstgerechtigkeit Verblendeten trieb damals schon besondere Blüten. Sie verstieg sich so weit, andern die böse Absicht und Kunst zuzusprechen, sich in Wölfe und Bären, Krähen und Katzen und anderes teuflisches Getier zu verwandeln, um so der Hexerei besser frönen zu können. In aller Form wurde den der Hexerei Verdächtigten vom neunmal weisen Richter die Frage gestellt: «ob Inkulpat oder Inkulpatin sich nicht entsinnen könne, jemals in Form und Gestalt irgendwelchen Gethiers den Leuten Schaden zugefügt zu haben?» Und wer es verneinte, dem wurde mit der Zuchtrute oder mit Stricken zugesetzt, bis er sich zu den schlimmsten Schandtaten bekennen musste.

 

Üppig wucherte dieser Wahn auch im Wallis, wo das Wort «Hexerei» zum erstenmal in einem Dokument von 1406 auftaucht, Als Ulrich Ruffiner die St.-Annen-Kapelle in Glis erbaute, blühte das Hexenwesen wie Unkraut auf dem Gemeindeanger. Erst der Landeskodex von 1795 stellte mit Genugtuung fest, dass die Hexerei im Wallis nun sehr selten geworden sei. War Ulrich Ruffiner ebenfalls von diesem Wahn beeinflusst? Wollte er die Gläubigen veranlassen, sich tüchtig mit dem geweihten Wasser zu besprengen, damit alles Tierische von ihnen weiche, ehe sie das Gotteshaus betreten. Doch verzeih, Meister Ulrich, vielleicht ist nichts Dämonisches in diesen Tierszenen; denn du Planer des Erhabenen und Beherrscher des Ebenmasses warst wohl in deiner Zeit bereits so aufgeklärt wie jener deutsche Philosoph, der in einer 1740 erschienenen Schrift die düstere Behauptung eines französischen Jesuiten, die Tiere wären lauter Teufel, damit abgetan hat, dass er ihm wie ein Nebelspalter entgegentrat und auf die Unmöglichkeit hinwies, der Schöpfer hätte zwei seiner besten Tage für die Erschaffung von Teufeln benutzt, wie auch Jesus sicher nicht auf einem Teufel, beziehungsweise Esel, in Jerusalem eingezogen sei.

 

Gelt, Meister Ulrich, der Tierbegriff des Mittelalters hat deinen Geist nicht getrübt? Neue Fragen quälen. Hast du, der du bis zu seiner Vertreibung Baumeister des Kardinals gewesen bist, um jedoch unmittelbar nach seinem Sturze in die Dienste seines Todfeindes zu treten, diesen Umschwung schadlos ertragen? Hast du nicht mit Widerwillen den Bau dieser Kapelle, die Supersaxos Sieg über den Kardinal bestätigen, seinen Ehrgeiz befriedigen, seine Macht verherrlichen und vergrössern, die Welt betrügen und den Himmel versöhnen sollte, begonnen? Musstest du dir nicht zuerst einen Zwiespalt aus der Seele schaffen? Und wie konntest du, der geborene Steinmetz, dies besser tun, als mit wuchtigen Hammerschlägen solche Possen in den Stein zu treiben? Wohl nur so vermochtest du dich zu befreien von diesem innern Hader, der von politischen wie religiösen Zeitumständen verursacht und nur noch mit Humor tragbar war.

 

Oder hat jener Professor den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er behauptet, der unter der Last seines sündigen Lebenswandels affenartig gewordene Mensch würde um dieser Sünden willen vom Teufel verschlungen, wenn er nicht durch das Wort des Heilands von Sünde und Teufel erlöst würde.

 

Nachdenklich steht der heutige Mensch vor Fabeltier und Affe beim Eingang der St.-Annen-Kapelle in Glis.

Ein vierhundertjähriges Rätsel, doch mehr als ein Scherz, da ähnliche Darstellungen aus der gleichen Zeit auch andernorts zu finden sind.

Der Stein gibt sein Geheimnis nicht preis.

Aber Fabeltier und Affe grinsen und tändeln und zanken weiter durch alle Zeiten.

 

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Fortsetzung

 

des Buches „Lachendes Wallis“ ist als E-Book für den Verkauf im Winter/Frühling 2017 vorgesehen.

 

Datenerfassung und Aufbereitung Antonio E. Fux und Nora Fux - Zryd   Wichtrach/Grächen – Sommer 2016