Der Sühnegang

 

 

Nun nach vielem Geschehen tropfen die Mohnblätter in raschem Verbluten nieder. Aller Richtungen beginnt sich um die Sommersonnwende nach innen zu wandeln. In unausdeutbarer Inbrunst liedeln die Steinrötel. Bereits in jene Strenge gebannt, die jedes reifenden Wesens Kreis beschliesst, neigen die Ähren sich zur mütterlichen Erde zurück. Nur die Quecke wuchert wichtig fort.

 

Wie die Generationen es schon taten und immer tun werden, weil Saat und Ernt nicht aufhören wird auf diesen ewigen Äckern, sind die Bauern gekommen, haben hier und dort ein Korn aus den Spelzen geklaut, auf die Reifehärte geprüft, von Brot und andern Wesenheiten gesprochen und gerne des Jahres Güte anerkannt. Als ob der Wind sich drehte, schlägt die Stimmung um, wie Urs Landolf vorbeigeht. Der ist nicht einheimischen Leuten aus dem Gesicht geschnitten, hat noch nicht den schweren Bergschritt und die Scholle hat ihn kaum gezeichnet. Er fühlt, wie die Gedanken der andern ihn hinterhältig beschleichen und denkt wehmütig, wie selbstverständlich es ihnen sei, dass sie jenes schon immer hatten, was er sich erst erobern muss: die Heimat. Aber dann sieht er, dass auch seine erste Saat reifen durfte und eine grosse Helligkeit bricht aus seinen Augen. Und abends, wenn der Wald verdämmert, die Sonne firnfern auslodert, der Himmel purpurn wird, violett und dann blau, so unsagbar blau, wie Christans Härmen und Hoffen urhaft tief sind, feiert Urs mit ihr das Fest der Roggenreife.

 

In grauer Frühstunde wunderten die Steinrötel mit perlrunden Augen in die vom Sichellied tönenden Äcker. Wenn auch behutsam geschnitten wurde, so ging dem emsigen Völklein die Arbeit doch so rasch aus den Händen, dass es sich vor der grössten Hitze verziehen konnte. Nur beim Schwendistadel werken Urs und Christa noch drauf los. Nicht dass sie die Zeit unnütz totgeschlagen. Aber die sind Anfänger.

 

Die andern geben wieder einmal ihrem Unmut Ausdruck, nicht verhindert zu haben, dass ein Fremder sich durch eine der hier äusserst seltenen Zwangsversteigerungen im Tale ankaufen konnte. Überhaupt ist seit Menschengedenken, ausser dem Arzt, kein Fremder im Tale ansässig geworden. Die Bevölkerung hat sich ohnehin bedenklich vermehrt und dadurch ist der karg bemessene Grundbesitz begehrter denn je. Und gibt es unter den Einheimischen auch Zwistigkeiten, die kein irdischer Richter beizulegen vermag, so bilden sie eigentlich doch eine grosse Familie und sind meist untereinander so verwandt, dass viele Jünglinge und Jungfrauen sich nur dank kirchlicher Dispens ernstlich ineinander verlieben dürfen. Und weil Blut allweil dicker ist als Wasser, werden Fremde scheelsüchtig angesehen. Und da kommt doch so einer von niemanden und nirgends her und ersteigert sich ein Gütlein, welches stückweise oder ganz zu besitzen ein Dutzend alt eingesessener Bauern begehrlich erhofft hatte. Aber der Boden soll ihm noch heiss werden.

 

So reden und verheissen die Leute, während und Christa ihren Roggen schneiden. Eine Rastpause ist auch ihnen vergönnt. Urs muss da die Hände seiner Frau bewundern, die so angriffig derb geworden sind, obschon darin das noch unerlöste Kosen der Mutter schlummert. Ihr Heimwehblick wird jetzt überstrahlt von der immer wachsenden Freude, den neuen Regungen in ihrem Körper selig sinnend nachspüren zu dürfen. Die Lippen haben nicht mehr jene Schwermut, die ihm beim Küssen oft dunkel ins Blut rann. Und heute ist ein neuer Jubel in ihr! Aus eigenem Mehl wird sie Brote backen und das erste davon Urs zum Anschneiden über den Tisch hinreichen, nachdem sie sich vorher mit wohlriechender Seife gewaschen und unauffällig geschmückt hat.

 

Vor einem Jahre war Urs noch einer der dreissig Millionen Arbeitslosen der Kulturstaaten; verfolgte arbeitshungrig jedes drehende Rad, horchte verzweifelt in die Werkstätten und Maschinenhallen hinein nach der Sympathie der Arbeit. Und doch hatte er seine Lehrzeit hinter sich und auch auf seinem Berufe hatte er gearbeitet, bis ihn das ausgeklügelte System der Rationalisierung überflüssig machte. Er liebte sein Christamädchen, das in einem Grosswarenhaus angestellt war und ihm immer wieder Hoffnung auf bessere Tage einflösste, bis sie selbst an dieser unerfüllten Hoffnung zu zerbrechen drohte. Mit Bangnis entdeckte sie, wie jene aus dem Produktionsprozess Ausgeschalteten stets abseitiger zu stehen kommen, übergangen werden, zu Zerrbilden der wirtschaftskranken Zeit ausarten und scheitern, wie es unter vielen von ihnen ein Ende gibt, dessen Tragik in Anstalten und Zuchthäusern den letzten Niederschlag findet. Da wünschte sie sich in irgendein Tal, in dem die Zustände sind, als hätten dort Wasser, Feuer und überbordende menschliche Leidenschaften nie Verheerungen angerichtet und Generationen geschwächt; in ein Tal, darin die sozialen Verschiebungen mit ihren empfindlichen Folgeerscheinungen nicht so stark fühlbar werden; ein Tal, in dem die Kinder nicht wieder der Stadt verfallen wie Christas Eltern, deren eigentliche Heimstätte Wiesen, Äcker und Wälder waren. So vermochte sie in Urs allmählich den Glauben an die eigene Kraft und das Vertrauen auf die ernährende Erde zu wecken.

 

Und sie haben dieses Tal gefunden, wo ein Gütlein versteigert wurde und ein in der Nähe liegender Kurort und die im Bau begriffene Autostrasse auch für einen Mechaniker noch bescheidene Aussichten erschlossen. Das erleichterte den Entschluss und auch die Aufnahme von Hypotheken, während die erste Anzahlung durch ein von Christa erarbeitetes Sümmchen gedeckt werden konnte.

 

So kam es, dass sie jetzt ihren ersten Roggen schneiden und in Garben binden konnten. Nach zwei Tagen trug Urs die Garben in den Stadel, einen dieser altehrwürdigen Getreidespeicher, welche der Mäuse wegen auf vier flachen Steinpilzen ruhen. Auch an diesem Stadel sind etliche Bauern Anteilhaber, weshalb er in Fächer geteilt ist. Im Korntuch trug Urs seine Garben ein, drosch sie durch Aufschlagen an den Tennwänden vor und legte sie in das vermeintlich von ihm erworbene Fach, während es jenem Bauern gehörte, der seiner verhängnisvollen Begehrlichkeit wegen mit dem Scheltnamen Gyr bedacht wurde. Es mag wohl sein, dass der Gyr sauren Wein genossen hatte, als er, da der Tag schon fast am Abend war, hastig sein Korn eintragen wollte, sein Fach belegt und Landolfs Acker abgeerntet sah und, statt füglich dessen freies Fach zu benutzen, in jähem Zornanflug Landolfs Garben herausriss und vor den Stadel warf. Das sprach sich bald hämisch im Dorf herum. Und die in den folgenden Tagen Korn einzutragen hatten, wussten, wessen Garben draussen lagen, achteten der Frucht des „Fremden“ nicht und schritten schändend darüber, so sehr sie sonst das Korn als Gabe Gottes betrachten. Urs erhielt erst nach Wochen Kunde von dem Unglück und musste sehen, dass sein Roggen aller Unbill der Menschen und des Wetters ausgesetzt gewesen, bereits keimte und somit verloren war. Da gab er den Glauben auf, je in die Dorfgemeinschaft hineinwachsen zu können und dachte, wieder wegzuziehen. Hartnäckiger jedoch war die Vorstellung, dass Christa dann das zu erwartende Kind wieder in die Welt hinaustragen müsste.

 

Darum trotzte er, schüttelte mit dem Verkauf des Schwendiackers das Ungemach ab und begann verbissen eine Wytweide zu roden, um den Boden für einen Acker umzubrechen. Mit der Reuthaue entfernte er Berberitzen, Heidekraut und andere Wildlinge, warf sie zu Haufen und zündete diese an. Wie ein Siegesfeuer war das jeweils. Zwei Wochen lang hatte jeder Abend sein Siegesfeuer. Urs und Christa war dabei zumute, als möchten ihre Seelen im hohen Bogen auffliegen und davon singen, wie zwei Menschen durch einige Aren selbstgewonnenen Neulands die Welt vergrössert werden kann.

 

Im Herbst dann, wie der Wind schon die Samen der Birken pflückte, hatten beide das Roggenunglück überwunden und auch jene Enttäuschung wurde unter die Erfahrungen gerechnet; denn im neuen Acker grünte bereits die Herbstsaat und mit erneuter Glut und Hingabefähigkeit umwarben die zwei Menschen sich und die Heimat.

 

Aber wieder wurde Urs vom Hass geätzt. In der Gemeindeversammlung hatte er einen Antrag gestellt und damit als der „Fremde“ eine solche Empörung heraufbeschworen, dass er hinausgeworfen wurde. So quälte ihn diese Schande, dass er sie vor Christa verbergen wollte und waldein schritt. Still und tot schien ihm der Wald und krampferstarrt die Zeit. Kein einziger Vogelruf tropfte in die marternde Stille. Kein Ast brach sich am andern. Nichts, aber auch gar nichts milderte den Stachel. Und doch glaubte Urs, mit jeder versickernden Sekunde müsse etwas geschehen. Doch nichts berührte ihn, kein Mensch und kein Stein. Und Gott schien tot. Da hielt er sich an einen in der Erde dieses Tales so selbstverständlich tief verwurzelten Baumstamm und weinte. Der Baum aber schwieg. So ging er dann zu Christa und konnte sich nicht über das Vorkommnis in der Gemeindestube ausschweigen. Nun gebrach es auch ihr an aufmunternden Worten. Kleiner, als es in trübster Stunde geahnt hätte, gab sie bei, dass es verfehlt war, hier eine Heimat suchen zu wollen.

 

Aber jetzt ist der Winter da. Sie sind vorläufig Gefangene dieses Tales. Und dann? Soll Christa ein neues Titanenwerk beginnen müssen? Noch fällt zwar hin und wieder ein Strahl in ihre Seele, der wie ein rötliches Weihrauchkörnchen wirkt und Wärme ausstrahlt, nach der auch Urs die Hände hinstrecken kann. Liegt aber die Nacht mit marmorner Kälte überm Tal, schwinden die letzten Hoffnungen.

 

Und doch ist die Sonne wieder im Steigen und in der Natur der Totpunkt überwunden. Es kommt der Föhn und bringt Märzenschnee. Unaufhörlich fällt der warme Schnee und wächst an den Häusern empor. Im Weiler wird umgesagt, dass Lawinengefahr sei und man sich in die Gruft des Meiggernhauses flüchten solle. Am Nachmittag schon ist das innere Tal von Lawinendonner erfüllt. Da begeben sich auch die Säumigsten ins Meiggernhaus. Vom Haus aus verzieht man sich bald in die bergseits liegende Gruft, ein ausgemauertes, mit Erde überdecktes Gewölbe, das in seiner Festigkeit und Ausführungsart den Druck der Lawinen schwächt und ableitet. Nach dem grossen Lawinenunglücken des letzten Jahrhunderts, wo innert zehn Jahren mehr als vierzig Menschen ums Leben kamen und über hundert Firsten vernichtet wurden, hat man an manches Talhaus solche Grüfte gebaut.

 

In der Gruft des Meiggernhauses standen sie nun Kopf an Kopf, beteten in furchtbarer Bangnis um Leben, Hab und Gut den Psalter, bis plötzlich eine Frau gequält aufschrie und nach Landolfs fragte. Erst versuchten einige mit der Kainsfrage: „Bin ich der Hüter - - ?“ sich über die an alle ergangene Mahnung hinwegzusetzen. Aber die Frage wollte nicht im lauter werdenden Gebete untergehen. Da war es der Gyr, der fragte, ob niemand Landolfs auf die Gefahr aufmerksam gemacht habe. Das starre Schweigen sagte genug und trotz des Funsellichtes gewahrte man verstörte Blicke. Da gerade der Gyr fragte, regte sich auch bei andern, die im Sommer Landolfs Ernte vernichten halfen und ihn jetzt nicht vor dem Lauwitier warnten, das Gewissen. Kein Zweifel, dass Urs und Christa gerettet werden müssen. „Zu spät!“ schluchzt eine Frau, und man überlegt, dass die Ki-Lowi schon gefallen ist und so auch die Trift-Lowi, welche den Weiler am meisten gefährdet, mit jedem Atemzug da sein kann. Aber der Gedanke, Landolfs nicht vor dem Tode gewarnt zu haben, ist schrecklicher denn alles. Und plötzlich verschwindet das Funsellicht. Mit dem Gyr an der Spitze gehen einige Männer hinaus in die Nacht und durch den Weiler. Darüber der Tod in gewaltiger Schwere, der vielleicht jetzt schon nun mehr an einem einzigen Faden hängt und darauf wartet, dass das für das Anbrechen der Lawine notwendige Gewicht von einem einzigen Gran Schnee erfüllt werde; oder nach Minuten der Schall anderer Lawinen die Trift-Lowi lösen hilft. In einer Viertelstunde kann der ganze Weiler schon begraben sein und mit ihm die sieben sich durch den Schnee kämpfenden Familienväter und Landolfs dazu. Aber mit Todesverachtung stapfen die Männer durch den Schnee, dringen bis zu den beiden ahnungslosen Menschen und lassen ihnen nicht Zeit, sich um das Vieh zu kümmern, weil die Trift-Lowi vielleicht schon anbricht.

 

Das war ein befreiender Jubel, als sie den Schnee durchkämpft hatten und mit den andern in der Gruft geborgen waren. Eine tiefe Notverschwisterung war das. Frauen und Männer sind sich um den Hals gefallen und Christa fühlte manche Mutterbrust ungestüm wogend an dir ihre stossen und Versöhnungstränen auf ihre Hände fallen.

 

Und jetzt ging die Trift-Lowi nieder. Des Donners rollende Wucht prallte bergerschütternd in Eis und Gestein, überbordete die Mulden, erfüllte die Schluchten, Wälder und Weiten und krachte tausendfach daraus zurück. Aber dann, wie es tagte und sie zitternd und betend aus der Gruft kamen, wurden sie gewahr, dass die Lawinenverbauungen sich bewährt und das Unglück vom Weiler abgelenkt hatten. Nur die Allmend war verschüttet und ein kleiner Waldbestand zu Kleinholz gemacht.

 

Märzwarm ging die Sonne auf und begann den Schnee wegzufressen. Und am gleichen Tage ist es geschehen, dass Christa ihre Niederkunft siegreich aushielt, obschon ihr Leben durch die in der Nacht ausgestandenen Ängste und Schwierigkeiten während der Geburt ihres Söhnchens in der Schwebe war, wie ein in der Sonne silbernder Marienfaden, der von einem dahergehenden Wanderer weggewischt oder gar von einem Lufthauch zerrissen werden kann.

 

Später hat man festgestellt, dass die Trift-Lowi drei Stunden im Unfang hatte. Was man aber in jener Schreckensnacht ausgestanden hat, schmiedete diese Menschen derart zusammen, dass Landolfs nie mehr das Gefühl haben mussten, sie stünden ausserhalb der Dorfgemeinschaft und müssten eine neue Heimat suchen.

 

Adolf Fux

 

 

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Aus „Land unter Gletschern“, Ein Heimatbuch aus dem Wallis, 1936, Seiten 119-129