Rässer Käse

von Adolf Fux

 

    Weil der Wein lauter redet als die Milch, vergisst man leicht, dass der Käse in der Schweiz die bedeutendere Rolle spielt. Politisieren lässt sich allerdings mit beiden, sowohl unter der Kuppel des Bundeshauses wie im Verband und am Stammtisch. Seit der Dreikönigsnacht Anno 1550, wo die Lötschentaler mit dem „Trichelstierkrieg“ einen Aufstand gegen die feudale Obrigkeit anzettelten, um die „fetten Milben aus den Käsen zu treiben“, ist der Krieg um den Käse im Schweizerland kaum je zum Stillstand gekommen. Selbst Gotthelf hat manchen Käseauflauf miterlebt, wie uns das jetzt auch im Film von der „Käserei in der Vehfreude“ drastisch vorgeführt wird. Neu und heftig entbrannte ein Zeitungskrieg wieder vor der letzten Volksabstimmung über die Milchschwemme und allem, was aus ihr hervorgeht, also auch um den Käse, weshalb mancher Artikel sehr käsig war. Seither kann jedoch jeder Schweizer seine Portion Käse im Frieden essen, was der Volksgesundheit sehr bekömmlich ist und die Schlagkraft unserer Armee steigert. Es mag das auch einer der Gründe sein, weshalb man das Bataillonsfondue eingeführt hat. Käse gibt Kraft und Mut. Man erkläre ihn zur Nationalspeise, damit wir durch Überwindung der Milchschwemme ein unüberwindliches Volk bleiben. Bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts hat der Luzerner Dichterpfarrer J. B. Häfliger den Käse und seine Wirkung in folgender Strophe verherrlicht:

 

„Was bruucht me-n-i der Schwiiz?

En gute-n-alte Chäs

Im Schwyzerpuur is Gfräss;

Dass’s Lyb und Seel hübsch zäme bindt

Am jüngste Tag im Buuch no findt:

Das bruucht me-n-i der Schwiiz....“

 

      Ach, der gute alte Käse ist rar geworden. Den Zähnen zum Verdruss. In früheren Zeiten gab es der rässen Käse so viele, dass eine Generation mit dem Kauen nicht fertig wurde und mehrere der runden, goldgelben Laibe sich auf Kinder- und Kindeskinder vererbten. Um in Missjahren nicht verhungern zu müssen, war jeder Bauer darauf angewiesen, eine Notration anzulegen, die grösser war als jene, die man heutigentags auf obrigkeitliches Geheiss für den Kriegsfall von der Waage kauft und im Kühlschrank oder Luftschutzkeller unterbringt. Als eiserne Ration eignete sich der fette Alpkäse besonders gut. Gerieten keine Milben hinein, war er unbegrenzt haltbar. Aber die Notration war nicht bloss des Bauern Lebensversicherung, sie war auch sein Stolz. Je mehr alte Käse in einem Keller lagerten, umso angesehener war er im Dorf. Doch lud er einen Freund in den Keller, war auch der Neid zu Gast.

 

      Noch zu Grossvaters Zeiten waren die Bauern nicht selten, die drei und mehr Dutzend Alpkäse zu hüten hatten, die zusammen über tausend Jahre alt waren. Berühmt geworden sind die zwei Käse aus dem Binntal, die als über Hundertjährige bei kantonalen und nationalen Ausstellungen im Rampenlicht lagen, allerdings wächsern und ungeniessbar und selbst von den Milben verachtet und verschont. Sonst wären sie kaum so alt geworden und hätten sich nicht von Generation auf Generation vererben können.

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     Wer hat heute noch solche Anwartschaft, wo jeder selber fett werden will? Wer kann heute noch seiner Tochter zum Hochzeitsmahl einen Alpkäse auf die Tafel legen, der bereits bei ihrer Geburt frisch von der Alp kam und während ihrer ganzen Kindheit und Jungfernzeit unangetastet blieb? Wer kann sich heute noch ein Haus bauen lassen und nach Vollendung desselben in jedem Fenster einen würzigen Alpkäse zur Schau stellen, damit alle Vorübergehenden erkennen sollen, dass Maurer und Zimmerleute den Bauherrn nicht arm fressen konnten, er sich also nicht überbaut hat?

 

    Wer heute bauen will, muss zuerst den Käse verkaufen. Und das ist nicht immer eine leichte Sache, obwohl mit den Stundenlöhnen auch die Kaufkraft gestiegen ist und der Käseesser täglich mehr werden. Nicht lange ist es her, dass in gewissen Wahlkreisen des Wallis jener Grossratskandidat die besten Chancen hatte, der sich verpflichtete, den Alpkäse ganzer Sennten restlos an den Mann zu bringen. Nach erfolgter Wahl musste der Herr Grossrat im Frack mit dem Käse hausieren gehen. Der Not gehorchend, drang er kühn bis ins Regierungsgebäude vor und liess dort manchen Käse beriechen und betasten, anbohren und vierteilen, was dem Bergvolk nicht wenig Sympathien eingebracht hat. Weil aus frommer Milch gewonnen, hat guter Käse etwas Bestechendes an sich.

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   Wollte Kathri in der Lohtola, die Gattin des misstrauischen, geizig verzwergten Mannes, den die Dorfgenossen „ds leid Wätter“ nannten, sich und ihren Töchtern heimlich das Leben etwas versüssen, schlich sie in den Keller und versteckte eines der selbstverfertigten, tellergrossen, magern Hauskäslein unter der Schürze, um es beim Krämer gegen Kaffee und Zucker umzutauschen. An den Alpkäse wagte sie sich nicht heran, obschon deren dreissig rund und dick im Keller lagen, gezählt und gehütet, berochen und betastet von ihrem Mann. Ein Eingriff in diesen goldgelben Reichtum hätte sicherlich Trennung von Tisch und Bett zur Folge gehabt.

 

    Als aber sein ältester Sohn sich bei gröbstem Gemsfrevel ertappen liess und eine gesalzene Busse aufgerieben erhielt, setzte der Bauer sich breit an den Stubentisch und schrieb ein Begnadigungsgesuch, das er mit folgendem verfänglichen Satz schloss: „Wenn Ihr, hoher Herr Justiz- und Polizeiminister, die Sache arrangiert und die Busse für immer streicht, bringe ich Euch höchstpersönlich einen zehnjährigen Alpkäs.“

 

   Aber der Herr Justiz- und Polizeiminister, obwohl als Bauernabkömmling kein Käseverächter, verhielt sich unbestechlich wie ein Skelett, was zur Folge hatte, dass „ds leid Wätter“ den guten alten Käse gesamthaft verkaufen und mit dem runden Erlös die Busse für den Sohn begleichen musste. Der Staat lässt sich seine Gemsen teuer bezahlen. Als der Bauer mit seinem Käse zum Krämer fuhr, erklärte er dem erstaunten Nachbarn unverfroren, der Käse wäre derart räss geworden, dass er und seine Kathri ihn nicht mehr geniessen könnten, weshalb sie sich an die magern Hauskäslein halten wollten, was auch für die übermütigen Söhne und Töchter gut genug sei, wollte doch selbst ein Justiz- und Polizeiminister keinen rässen Käse mehr essen.

 

   „Die grossen Herren essen wohl lieber teuren Gemspfeffer“, sagte der Nachbar und wandte sich lächelnd ab.

 

 

 

(Originalabschrift ab Manusskript, Archiv STIFTUNG ADOLF FUX,

Text um zirka 1958)

 

Antonio E. Fux  CEO / Juli 2014

Fotos: Nora Fux